64. Berlinale: Nah dran und mitten drin

Auf die märchenhafte Eröffnung mit Wes Andersons "The Grand Budapest Hotel" folgte bei der 64. Berlinale am nächsten Tag die harte Realität: Mit quasidokumentarischen Mitteln folgt sowohl Yann Demange in "´71" der Odyssee eines britischen Soldaten durch den nordirische Bürgerkrieg als auch Edward Berger in "Jack" einem zehnjährigen Berliner Jungen, der verzweifelt versucht seine verantwortungslose Mutter zu finden.

Wie der zehnjährige Jack und der fünfjährige Manuel in der Morgensonne in ihrem Bett schlafen, draußen die Blätter leicht im Wind rauschen, ist ein Bild der Idylle, das durch das Klingeln des Weckers nur geringfügig gestört wird. Diese erste Einstellung bleibt in Edward Bergers "Jack" aber das einzige Bild der Ruhe.

Hektisch wird es, sobald Jack aufsteht, denn er muss sich und seinen Bruder für den Tag startklar machen, Wäsche abnehmen und Frühstück zubereiten. Er selbst isst dann auf dem Schulweg ein Marmeladebrot. Mit nah geführter Handkamera vermittelt Edward Berger die Unruhe und Aktivität des Jungen, auf dem die ganze Verantwortung für seinen kleinen Bruder lastet, denn Eltern scheinen sie keine zu haben. Die Mutter taucht zwar wenig später auf, kennt aber überhaupt kein Verantwortungsgefühl. Sie will ihr eigenes Leben leben und nimmt sich für ihre Kinder nur Zeit, wenn sie sonst nichts vorhat.

So verspricht sie Jack und Manuel zwar mit ihnen einen schönen Tag zu verbringen, doch am See sieht man dann doch die beiden Jungs nur allein. Nach einem Unfall schreitet das Jugendamt ein und ordnet für Jack eine Heimeinweisung an. Sehnsüchtig erwartet er dort die Sommerferien, in denen er wieder zur Mutter soll. Als diese kurz vorher telefonisch mitteilt, dass sie ihn erst nach dem Wochenende abholen könne, haut Jack ab und macht sich mit seinem kleinen Bruder, den er bei der Babysitterin findet, auf die Suche nach der Mutter.

Von allein gelassenen Kindern und überforderten Müttern haben schon Hirokazu Kore-eda in "Nobody Knows" und Ursula Meier in "L´enfant d´en haut" meisterhaft erzählt. Berger arbeitet mit dem quasidokumentarischen Stil der Dardennes, folgt seinem von Ivo Pietzcker mit großem Einsatz gespielten Jack auf Schritt und Tritt, setzt und berührt gerade durch die, abgesehen von wenigen Melodramatik erzeugenden Musikeinsätzen, nüchterne Erzählweise.

Da Berger sich aber ganz auf die Schilderung der Ereignisse konzentriert weder die Geschichte in einem sozialen Umfeld verankert, noch einzelne Momente markant verdichtet, bleibt "Jack" letztlich doch in einem Abbildrealismus stecken, der zwar auf ein Problem, das sicher kein Einzelfall ist, aufmerksam macht und in den Begegnungen der Kinder die Gleichgültigkeit der Erwachsenen zeigt, aber weder tiefere Einsichten bietet noch Lösungsvorschläge aufzeigt.

Zu nah dran an seinen Figuren ist auch Yann Demange, der in "´71" mit der gleichen Handkamerastrategie, aber mit deutlich mehr Musikeinsatz von der Gewalt, permanenten Angst und verschwimmenden Opfer- und Täterrollen im Nordirlandkonflikt erzählt. Demanges Protagonist ist ein junger britischer Rekrut, der nach der Ausbildung ins Bürgerkriegsgebiet verlegt wird, bei einem Einsatz in den Straßen von Belfast von seiner Truppe getrennt wird und allein im feindlichen Gebiet ums Überleben kämpfen muss.

Wie bei "Jack" gibt es nur dieses Hier und Jetzt der Handlung, keine Vor- und Nebengeschichten. Mittendrin ist man als Zuschauer im Geschehen, beklemmende Atmosphäre erzeugt nicht nur die Beschränkung der Haupthandlung auf einen Nachmittag und eine Nacht, sondern auch die Reduktion der Farbpalette auf dunkle Grün- und Grautöne.

Hautnah erlebt man nicht nur die Todesangst des Protagonisten, sondern auch den schon bei Kindern geschürten Hass auf die Briten, aber auch das Klima der Verunsicherung unter der Bevölkerung, die stets in Angst lebt, von der IRA des Verrats und der Kollaboration beschuldigt und zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Doch wie bei "Jack" verstellen eben auch hier gerade die Nähe der Kamera und die Beschränkung auf die quasidokumentarische Nachzeichnung von Ereignissen den Blick auf größere Zusammenhänge. Über die nicht eben neue Erkenntnis, dass ein Krieg eine grausame Angelegenheit ist und es nur Verlierer geben kann, kommt "´71" damit nicht hinaus. Da verstand es James Marsh in "Shadow Dancer", der vor zwei Jahren bei der Berlinale lief, schon viel eindringlicher und künstlerisch überzeugender vom Netz aus Angst, Verrat und Intrigen im Nordirlandkonflikt zu erzählen.