64. Berlinale: Getrieben von *Sexsucht* und religiösem Wahn

Außer Konkurrenz läuft bei der Berlinale die Langfassung des ersten Teils von Lars von Triers "Nymphomaniac". Im Rennen um den Goldenen Bären gab es dagegen Dietrich Brüggemanns stilistisch radikalen "Kreuzweg" zu sehen.

Jedem Tag sein Thema scheinen sich die Verantwortlichen bei der Programmierung der Wettbewerbsfilme gedacht haben. Nachdem Realismus mit Handkamera am Freitag mit "Jack" und "´71" angesagt war, folgten am Samstag mit "Die geliebten Schwestern" und "The Monuments Men" zwei Geschichtslektionen, bei denen auch deutsche Klassik Nazi-Barbarei gegenüber stand. Am Sonntag folgte dann auf die Sinnsuche in der Aufopferung für Gott in Dietrich Brüggemanns "Kreuzweg" eine Sinnsuche im Sex bei Lars von Triers "Nymphomaniac".

Einen Film wie "Kreuzweg" hätte man von Dietrich Brüggemann nach seiner lockeren Komödie "Drei Zimmer/Küche/Bad" wohl kaum erwartet. Denn sein neuer Film zeichnet sich durch radikalen Stilwillen aus, besteht trotz einer Länge von 107 Minuten gerade mal aus 14 Einstellungen, kann aber dank des konzentrierten Blicks und starker Darsteller dennoch durchgehend fesseln.

Entlang der 14 Kreuzwegstationen Jesu, die den Film auch in 14 Kapitel gliedern, erzählt Brüggemann in seinem Drama von der 14-jährigen Maria, die sich Gott opfern will, um damit ihren vierjährigen Bruder von seiner Stummheit zu befreien.

Jede Szene, die sich von der letzten Firmstunde über einen Ausflug mit der Familie bis zur Firmung und dem Tod spannen, ist in einer weitgehend statischen Einstellung gefilmt. Wenn sich hier bei der Firmmesse erstmals die Kamera bewegt, sich mit den Gläubigen erhebt und dann in Parallelfahrt zum Altar folgt, geht förmlich ein Ruck durch den Zuschauer.

Die strenge Form, zu der auch der Verzicht auf Musik gehört, passt freilich kongenial zum Inhalt, denn Maria wächst in einer fundamentalistisch katholischen Familie auf, die der Piusbruderschaft angehört, die alle Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnt. Popmusik und auch Gospels gelten hier als satanische Musik, dass sie mit einem Buben aus der Parallelklasse etwas unternehmen will, wagt Maria ihrer Mutter gar nicht erst zu sagen.

Diese Mutter ist nämlich das absolute Familienoberhaupt, der Vater meldet sich nie zu Wort. Keinen Widerspruch duldet sie, fordert bedingungslosen Gehorsam und demütigt ihre Tochter auch immer wieder. Aussprechen kann sich Maria nur mit dem Au-pair-Mädchen Bernadette.

Obwohl sie es im Grunde allen recht machen will, erfährt Maria so zuhause nur Druck und wird andererseits in der Schule wegen ihres Glaubens gemobbt. Die psychische Belastung führt zum Zusammenbruch, doch für die rationalen Argumente des Arztes ist die Mutter nicht zugänglich, bis Maria schließlich nach Einlieferung ins Krankenhaus im wahrsten Sinne des Wortes an ihrem Glauben stirbt.

Hochstilisiert und dennoch eindringlich ist dieser Film, von bewundernswerter Konsequenz und nachhaltig wirkend und wirft im Kontext des Wettbewerbsfilms "Jack" die Frage auf, ob die dort geschilderte völlig verantwortungslos handelnde Mutter im Vergleich zu einer solchen Fundamentalistin nicht das kleinere Übel ist.

Der Enthaltsamkeit bei Brüggemann steht das bedingungslose Ausleben des sexuellen Verlangens in Lars von Triers zweiteiligem "Nymphomaniac" gegenüber, mit dem der Däne nach "Antichrist" und "Melancholia" sein "Triptychon der Depression" abschließt. In Berlin wurde die 145-minütige Langfassung des ersten Teils gezeigt.

Fulminant ist schon der Auftakt: Auf eine lange Schwarzblende, zu der man nur das Tropfen von Wasser hört, folgt der Blick auf einen Hinterhof. Es schneit leicht und die Kamera erkundet weiterhin begleitet vom leisen Geräusch tropfenden Wassers den Schauplatz, bis die Stille abrupt und heftig durch Musik der Heavy Metal Band Rammstein unterbrochen wird. Ein älterer Herr findet die etwa 50-jährige Joe, die verletzt am Boden liegt. Er nimmt sie mit in seine karg ausgestattete Wohnung, wo sie ihm nach Zögern in acht Kapiteln wie einem Psychoanalytiker ihre Lebensgeschichte erzählt – die Geschichte eines permanenten Verlangens nach Sex.

Zahlreiche explizite Sexszenen, mit denen von Trier sichtlich auch provozieren will, fehlen zwar nicht, dennoch kann man dieses Opus magnum keinesfalls als Sexfilm abtun. Denn einerseits versucht der Däne speziell in den Gesprächen zwischen Joe und ihrem Gastgeber unter Bezugnahme auf Philosophie, Religion und Musiktheorie vielschichtig Fragen nach dem Verhältnis von Sex und Liebe sowie leidenschaftlichem Begehren, Zwang und Freiheit zu ergründen.

Andererseits zeigt sich aber auch in der formalen Gestaltung von Triers Meisterschaft. Spielerisch stellt der Provokateur Parallelen zwischen den Techniken beim Fliegenfischen und der Kunst der Verführung her, fügt mit Schrifttafeln, Diagrammen, Standfotos oder Archivmaterial Erläuterungen ein und erzählt auch nicht durchgängig chronologisch, sondern lässt Joe in ihren Ausführungen mehrfach in die Kindheit zurückkehren. Weder fehlt es an Witz wie in einer herrlich grotesken Szene, in der eine Mutter mit Kindern, die von ihrem Mann wegen Joe verlassen wurden, die neue Sexpartnerin besucht, noch an Beklemmung in dem in schwarzweiß gehaltenen Kapitel über den Tod von Joes Vaters.

In seinen Brüchen und formalen Spielereien ist "Nymphomaniac" zwar weniger rund und geschlossen als andere Filme des Dänen, dennoch aufregendes Kino. Störend ist allerdings die Teilung des Films, da dadurch eine durchgängige Geschichte zerrissen wird und man am Ende des ersten Teils unbefriedigt mitten im Film das Kino verlassen muss.