49. Solothurner Filmtage: Migration und der Traum vom Glück

Wiederkehrendes Thema war bei den 49. Solothurner Filmtagen sowohl im Spiel- als auch im Dokumentarfilm nicht nur in migrantischen Kontexten die Sehnsucht nach einem neuen Leben. Für Höhepunkte sorgten dabei Sabine Boss mit "Der Goalie bin ig", Petra Volpes "Traumland" und Kaveh Bakhtiaris "L´Escale".

Ein Jahr war Ernst, den alle nur Goalie nennen, in Haft, weil er beim Drogenschmuggel erwischt wurde und seine Auftraggeber nicht verriet. Jetzt ist er wieder draussen und träumt von einem Neubeginn, doch schwer tut sich einer mit seiner Vergangenheit Fuß zu fassen, denn Goalie versumpft gern auch einmal beim Bier in der Kneipe.

An Ken Loachs "My Name Is Joe" lässt Sabine Boss´ wunderbar stimmige Verfilmung von Pablo Lenz´ 2010 erschienenem Dialektroman "Der Goalie bin ig" aufgrund des Milieus und der Typen denken. Ganz aus der Perspektive des von Marcus Signer grossartig gespielten Protagonisten erzählt Boss, versetzt den Zuschauer mit Voice-over in seine Perspektive, bietet in kurzen Rückblenden Einblick in seine Kinderfreundschaften, die in die Gegenwart hereinwirken, führt ihn an den Rande des Absturzes und lässt ihn sich doch immer wieder hochrappeln.

Geradlinig ist das erzählt, lebt von der Einbettung in ein atmosphärisch dicht und stimmig eingefangenes Milieu, von lebensnahen Dialogen und bis in die Nebenrollen hinein trefflich besetzten und gespielten Figuren. Dazu kommt eine Musik mit Gitarrenriffs und bluesigen Songs, die die melancholische Stimmung des Goalie zwischen leiser Hoffnung auf Neubeginn und gleichzeitiger Unerreichbarkeit des Glücks wunderbar unterstützt und verstärkt.

Härter ist der Blick, den Petra Volpe in "Traumland" auf die Menschen und die Welt wirft, auch weil sie ihre fünf parallel erzählten Geschichten gerade vor dem Hintergrund von Weihnachten spielen lässt. Prägnant weist schon in den den Film eröffnenden Einstellungen, die mit Lichterglanz, Weihnachtsmännern und Weihnachtssternen vorweihnachtliche Stimmung evozieren, ein von einem Hochhaus fallender brennender Weihnachtsbaum auf die Fallhöhe zwischen den Versprechungen des Festes der Liebe und der Realität hin.

Da wird die junge bulgarische Prostituierte Mia von ihrem Zuhälter ausgebeutet, eine Arztgattin muss feststellen, dass ihr Mann regelmäßig Prostituierte besucht, eine Sozialarbeiterin sucht heimlich Erfüllung beim Sado-Maso-Sex, ein geschiedener Mittfünfziger will sich Mias Gesellschaft für den Weihnachtsabend kaufen und eine verwitwete einsame Spanierin, deren Tochter in Hongkong lebt, umwirbt einen Landsmann.

Knapp aber prägnant fängt die großartige Kamera von Judith Kaufmann die unterschiedlichen Milieus vom trostlosen Wohnblock über das rustikale Einfamilienhaus bis zur Designervilla ein, verknüpft die Geschichten immer wieder mit Weihnachtsvorbereitungen und flechtet aus den puzzleartig, aber immer übersichtlich erzählten Geschichten ein dichtes Netz an Sehnsüchten, Einsamkeit und Verlorenheit.

Wie beim "Goalie" verstärkt auch hier verstärkt die Musik von Sascha Ring die Stimmung und schmelzt gleichzeitig auf wunderbare Weise die nur ganz lose verbundenen Episoden zusammen. Hier funktioniert diese Erzählstrategie, die sich in der Nachfolge von Robert Altmans "Short Cuts" teilweise schon tot gelaufen hat, für einmal wieder perfekt und verstärkt durch die Parallelen die Wirkung der einzelnen Episoden.

Die Wärme und Nähe, die in Szenen kurz aufkommt, wird immer wieder abrupt gebrochen. Menschliche Härte und Gemeinheiten werden aufgedeckt - bis zum Schlussbild, dem jede Wärme ausgetrieben ist und in dem nicht nur alle Hoffnung in der winterlichen Kälte, die auch eine menschliche Kälte ist, abgestorben ist.

Im Vergleich zur Durchschlagskraft und Härte dieses virtuos kunstvollen Films wirkt die Schilderung des Schicksals einer ungarischen Prostituierten in Men Lareidas "Viktoria – A Tale of Grace and Greed" beliebig und lasch. Die Geschichte einer Budapester Roma, die hofft am Zürcher Straßenstrich Geld für ein neues sorgenfreies Leben zu verdienen, erzählt Lareida nicht nur mit allen Klischees, sondern bleibt auch ganz an der Oberfläche kleben, reiht Szene an Szene, ohne einen Moment zu verdichten.

Beklemmung löst dagegen der iranischstämmige Kaveh Bakhtiari mit seinem Dokumentarfilm "L´escale" aus. Die Nachricht seines Cousins, dass er nach der Flucht aus dem Iran nun in Athen festsitze, veranlasste Bakhtiari nach Griechenland zu reisen. Doch er besuchte nicht nur seinen Cousin, sondern begann mit der Digitalkamera die Situation von sechs Iranern und einer Armenierin, die illegal in einer Wohnung in Athen lebten, zu dokumentieren.

Auf Vorgeschichten verzichtet Bakhtiari, konzentriert sich ganz auf die Gegenwart und die Schilderung dieses für einen der Betroffenen schon fünf Jahre dauernden Zwischenstopps zwischen Hoffen und Bangen. Er zeigt die verzweifelten Versuche über die mit Stacheldraht gesicherten Zäune in den von Polizei bewachten Hafen zu kommen, um sich in einen der LKW zu schmuggeln, oder den Versuch Pässe zu fälschen, filmt sie beim Essen und Schlafen und zeigt, wie sie an Gott, der ihnen nicht hilft, verzweifeln, oder wie einer der Migranten in seiner Verzweiflung mit zugenähten Lippen einen Hungerstreik vor der UNO-Flüchtlingsbehörde beginnt, um nach 35 Tagen dann endlich eine Erlaubnis zur Weiterreise zu erhalten.

In dieser radikalen Innensicht auf die Migranten, bei der auf alle Hintergrundinformationen verzichtet wird, wird "L´escale" zu einem erschütternden Angriff auf ein Europa, das die Augen vor diesem Elend verschließt, die Grenzen dicht macht und die eine neue Heimat Suchenden aussperrt wie Verbrecher.

Obwohl "L´escale" schwere Kost ist, war das Solothurner Landhaus bei der Vorstellung am Samstag nachmittag fast bis auf den letzten der 552 Plätze gefüllt. Kein Einzelfall ist das. Wie bei vielen Festivals werden auch bei den Solothurner Filmtagen Filme, die im regulären Kinoprogramm vielfach kaum Zuschauer finden, regelrecht gestürmt und auch die über 900 Zuschauer fassende Reithalle ist hier nicht nur bei der Eröffnung (Alain Gsponers "Akte Grüninger"), sondern auch bei "Der Goalie bin ig" oder Oliver Paulus´ und Stefan Hillebrands frecher und frischer "Behindertenkomödie" "Vielen Dank für Nichts" ausverkauft.

Schon jetzt Lust auf das 50-Jahr-Jubiläum im nächsten Jahr machen die Solothurner Filmtage aber nicht nur mit diesem Publikumszuspruch, sondern auch mit dem romantischen Ambiente der zwischen Aare und Jura liegenden malerischen Barockstadt mit ihren elf Kirchen, elf Brunnen und elf Türmen.