NS-Täterinnen auf der Spur: "Der kalte Blick"

Das Haus der Geschichte Österreich rückt mit einer neuen Ausstellung im Vorfeld des Tages der Befreiung am 8. Mai österreichische Täter- und Täterinnengeschichte, Opferschicksale und die Auseinandersetzung mit NS-Verantwortung in den Mittelpunkt.

In der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien entdeckt die Kuratorin Margit Berner im Jahr 1997 eine Schachtel mit der Aufschrift "Tarnow Juden 1942". Enthalten sind darin Fotografien von jüdischen Familien. Die Fotos sind Teil eines Projekts zur Erforschung "typischer Ostjuden", das die Wiener Wissenschaftlerinnen Dora Maria Kahlich und Elfriede Fliethmann im März 1942 in der deutsch besetzten südpolnischen Stadt Tarnów durchführen. Mit kaltem Blick untersuchen und fotografieren sie "rassenkundlich" mehr als hundert jüdische Familien, insgesamt 565 Männer, Frauen und Kinder. Von diesen überleben nur 26 den Holocaust und können später davon berichten.

In jahrelanger Forschung gelang es, die Fotos durch verstreute Aufzeichnungen und umfangreiche Archivrecherchen namentlich zuzuordnen und die Todes- sowie Lebenswege der Portraitierten zu rekonstruieren. "Der kalte Blick" erzählt vom Leben der Jüdinnen und Juden in Tarnów vor 1939 und von deren Ermordung – als einem Beispiel unter Hunderten für die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Gemeinden in Polen. Zentral wird aber auch das ehrgeizige Vorgehen der beiden jungen österreichischen Anthropologinnen thematisiert, die durch die kriegsbedingte Abwesenheit ihrer männlichen Kollegen Karriere machen konnten.

Die von Publikum und Kritik hochgelobte Ausstellung war bis April in der "Topographie des Terrors" in Berlin zu sehen. Das Haus der Geschichte Österreich zeigt sie auf dem Alma Rosé-Plateau der Neuen Burg: Diese Fläche hat das Museum vorrangig dem Holocaust und seinen Nachwirkungen gewidmet. Erstmals zu sehen ist das Original jener Schachtel, in der die Anthropologin Dora Maria Kahlich die durchnummerierten Fotos aufbewahrte. Die Feldpostkiste mit der Aufschrift "Tarnow Juden" hatte zuvor offenbar eine andere Verwendung: Darauf verweist die Notiz "Für mein Haserl" in der Handschrift der Wissenschaftlerin – vermutlich war damit ihr Mann Herbert Kahlich gemeint, der 1944 an der Front starb.

Deutsche und österreichische Tätergruppen, die in Tarnów eingesetzt wurden, erhalten in "Der kalte Blick" ein besonderes Gewicht. Dabei werden die Täterinnen und Täter jedoch immer den Berichten der Überlebenden, den Fotos und Lebensgeschichten der von ihnen Verfolgten und Ermordeten gegenübergestellt. In einem Kubus, dem "Archiv der Bilder", zeigt die Ausstellung alle Fotografien der 106 Familien. In einer Medienstation sind die Kurzbiografien der Familien abrufbar, eine Tafel listet die "Statistik des Todes" auf.

Von 76 Familien fand sich kein Hinweis, dass ein Familienmitglied nach dem Krieg noch am Leben war, und von knapp der Hälfte auch keine Spur in der großen Opferdatenbank von Yad Vashem. Niemand konnte nach 1945 mehr mitteilen, dass sie ermordet worden waren. Von den allermeisten Ermordeten sind die anthropometrischen Portraits, die in einer Situation der Bedrohung und des Zwangs aufgenommen wurden, die letzten und fast immer die einzigen noch erhaltenen Fotos.

Die zweisprachige Ausstellung (deutsch-englisch) entstammt einem Kooperationsprojekt zwischen dem NHM Wien, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors. Kuratoren der Ausstellung sind Margit Berner (NHM Wien), Ulrich Baumann (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Stephanie Bohra (Stiftung Topographie des Terrors) und der Historiker Götz Aly.

NS-Täterinnen auf der Spur: "Der kalte Blick"
Haus der Geschichte Österreich
Von 5. Mai bis 14. November 2021