Ein kompletter Schmarrn

11. Juni 2018 Kurt Bracharz
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Der Schmarrn gehört nicht zur französischen Küche, aber mit einiger Regelmäßigkeit zur französischen Literatur. Während die britische Literaturszene gegen ganz üblen Kitsch gefeit zu sein scheint und die deutschsprachige eher mit biederer Mittelmäßigkeit als mit wichtigtuerischem Gefasel zu kämpfen hat, kommen aus Frankreich immer wieder von der Kritik hoch gelobte bzw. hochgelobte Romane, bei denen man sich fragt, wie sie über das Lektorat hinausgekommen sind. Der letzte große Fall war der stilistisch zweitklassige Unterhaltungsschriftsteller Houellebecq, dessen teilweise aus dem Internet kopiertes Gejammer darüber, wie die angeblich sexuell Befreiten sich – und vor allem ihn – nicht mehr richtig lieb haben können, sofort zu Bestsellern wurde. Sein letzter Roman, "Die Unterwerfung", war dann wohl besser lektoriert als die Vorgänger, es war jedenfalls zum ersten Mal eine recht amüsant Lektüre, die aber auch nur von leseschwachen Ignoranten als Literatur eingeschätzt werden konnte.

Der neueste Fall gewinnt eine gewisse Pikanterie dadurch, dass ein Machwerklein gleich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, immerhin der höchsten literarischen Auszeichnung Frankreichs. Eric Vuillards schmaler Prosaband ("Roman" wäre übertrieben) "Die Tagesordnung", auf Deutsch bei Matthes & Seitz erschienen, ist aber ein kompletter Schmarrn. Diese österreichische Metapher ist besonders angebracht, weil es in dem Büchlein unter anderem um den "Anschluss" 1938 geht. Vuillard ist 1968 geboren, hat also alle seine Weisheiten über Hitler, Schuschnigg, die deutschen Großindustriellen und das Verhalten der Österreicher aus der Sekundärliteratur. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, es wird erst bei den frei erfundenen Details problematisch, die zwar nicht ausdrücklich als Fakten deklariert werden, aber offenbar von naiven Lesern dafür gehalten werden können – die Besprechung des Buches im Berliner "Literarischen Quartett" war eine Demonstration historischen Unwissens, gepaart mit literarischer Kritikunfähigkeit.

Von der Tendenz her ist es ein Buch, über das man heute – 2018 – erfreut feststellen kann, dass der Widerstand gegen Hitler jeden Tag wächst. (Das Copyright für diesen Schmäh liegt, glaube ich, bei Henryk M. Broder.) Klaus Nüchtern sagte es im "Falter" ebenfalls spöttisch: "Aber dass dieser Hitler eine richtige Nazisau war, haben manche schon vor Vuillard geahnt. Dessen ostentative Empörtheit wirkt fragwürdig, zum einen, weil der Widerstand der Nachgeborenen doch recht wohlfeil zu haben ist, zum anderen, weil dem Autor schlicht die Mittel fehlen, um ihr Glaubhaftigkeit zu verleihen." In einigen Blättern von der "Kleinen Zeitung" bis zur "Presse" wurde das Buch positiv besprochen oder sogar sehr gelobt. Man fragt sich, ob diese sich sowieso nur auf die Handlung beziehenden Leser den bis zur Groteske manierierten Stil dieses Buch gar nicht wahrnehmen können.

Es gibt einen Roman über das Münchner Abkommen 1938, der gut recherchiert und flüssig zu lesen ist, dabei keinen Anspruch erhebt, "Literatur" zu sein, sondern ein sehr spannender Thriller ist: "München" von Robert Harris, deutsche Ausgabe bei Heyne. Wie schon in seinem brillanten Dreyfus-Roman "Intrige" verwendet Harris einen fiktiven Protagonisten, um die Verhältnisse glaubwürdig aus einem konsistenten Blickwinkel schildern zu können. Seine Quellenliste ist erheblich länger als die von Vuillard, aber das merkt man beim Lesen nicht. Harris kann keine Literatur-, sondern nur Filmpreise bekommen, aber vermutlich macht das ihm und seinen Lesern nichts aus. Manche Literaturpreise sind ja keine Empfehlung mehr.