Die ausstellungsbegleitenden Publikationen des Leopold Museums sind immer ausführlich und umfassen sämtliche Exponate, in diesem Fall über zweihundert der bemerkenswerten Retroperspektive, die dem vielschichtigen Œuvre Rudolf Wackers (1893–1939) gewidmet ist. In Vorarlberg, Wackers Heimat, hat man sich mit großem Engagement um die Aufarbeitung seines Werkes und Nachlasses verdient gemacht, so kann bei dieser monografischen Ausstellung im Leopold Museum aus dem Vollen geschöpft werden.
Wackers Werk gehört zu den bedeutendsten österreichischen Beiträgen zur Neuen Sachlichkeit in Europa. In der Ausstellung (siehe auch Artikel kultur online) und im Buch „Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ wird die Entwicklung des Vorarlberger Malers und Zeichners nachgezeichnet, thematische Schwerpunkte seines Schaffens beleuchtet und die künstlerische Qualität und technische Perfektion seines Œuvres aufgezeigt. Im Fokus von Wackers Interesse standen seine nächste Umgebung, die in seinen Stillleben verdichtete „Magie des Alltäglichen“, die Landschaften seiner Heimat, der weibliche Akt sowie das Selbstporträt. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich zählt zu den zentralen Themen. In der Kriegsgefangenschaft wurde ihm sein eigenes Antlitz geradezu eine Obsession, die noch bis in die Mitte der 1920er-Jahre andauerte.
Rudolf Wackers Leben und Schaffen war untrennbar mit den gesellschaftspolitischen Ereignissen der 1910er- bis 1930er-Jahre verwoben: 1914 führte der Erste Weltkrieg den engagierten Kunststudenten von Weimar an die Ostfront, danach für viele Jahre in russische Kriegsgefangenschaft. Wieder in Freiheit, erreichte Wackers expressive Handschrift in der Zeichnung frühe Höhepunkte. Mitte der 1920er-Jahre entwickelte er eine eigenständige neusachliche Position, welche mit ausgewählten Arbeiten der deutschen Neuen Sachlichkeit in Dialog gesetzt wird.
Wacker war zeitlebens nicht nur ein Zeichner und Maler, sondern auch ein geradezu exzessiver Leser und Autor. Allein in den Jahren seiner Kriegsgefangenschaft las Wacker über 400 literaturgeschichtliche Klassiker und Bücher zur Kunstgeschichte, Philosophie und Naturwissenschaft, am Ende seines Lebens dürften es an die tausend gewesen sein. Als Chronist seines Lebens schrieb er über drei Jahrzehnte hinweg Tagebücher, die nicht nur persönliche und künstlerische Gedanken sowie ein Verzeichnis seiner Ausstellungen und Verkäufe, sondern auch faszinierende Erlebnisberichte einer vergangenen Epoche enthalten. Dies illustrieren die tiefgründigen Textbeiträge: Aspekte zu Leben und Werk (Marieanne Hussl-Hörmann); Wacker in Wien. Kunst und Leben, Provinz und Metropole (Jürgen Thaler); Rudolf Wacker und die überregionale Künstler:innenvereinigung Der Kreis (Ute Pfanner); Rudolf Wacker und sein Selbst (Herbert Giese); Frauenbild(er). Zu Rudolf Wackers „sexualistischer“ Welt- und Kunstauffassung (Laura Feuerle); Die Kinderzeichnungen als Mahnruf in den politischen Stillleben (Rudolf Sagmeister, Kathleen Sagmeister-Fox).
Auch die vollständige Bildansammlung der Ausstellung im Buch ist eine große Bereicherung für die Auseinandersetzung mit Rudolf Wacker zu Hause: Landschaften, detaillierte Häusergruppen, die abgründigen Selbstportraits und Puppendarstellungen sowie die zur Interpretation anregenden Stillleben verlangen förmlich nach längerem Betrachten. Überraschend, dass das Coverfoto mit dem Zerbrochenen Puppenkopf in Wirklichkeit ein kleines quadratisches Bild von nicht einmal fünfzehn Centimetern ist.
Rudolf Wacker
Magie und Abgründe der Wirklichkeit
336 Seiten, 23,5 x 28 cm, Hardcover
271 Abbildungen, Dt/En
Verlag der Buchhandlung König
ISBN 978-3-7533-0749-7