Zu viel Architekturshow?

Ich wollte über das Nationalstadion in Peking – "Bird´s Nest" – schreiben. Doch nur, weil ich den fünften Teil der wirklich interessanten Monografie von Herzog & De Meuron gerne studiere und mein Sohn soeben als Coach zu den Olympischen Spielen abgereist ist, war ich trotzdem nicht dort. Das MuCEM (Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée), eröffnet 2013, als Marseille zur Kulturhauptstadt gekürt wurde, kommt mir dagegen assoziativ in den Sinn. Und das, wie sich bei der Recherche herausstellt, nicht von ungefähr: beide Bauwerke geben der Stadt und den Menschen eine Begegnungszone zurück, die Hülle, Struktur, Ornament, begehbare Skulptur und öffentlicher Raum ist – beim einen als Dickicht von Stützen und Balken aus Stahl, beim anderen als dunkler Schleier eines arabesken Beton-Gitterwerks.

Marseille hat die Chancen genutzt und sich von einer durch hohe Kriminalität verrufenen, in eine besuchenswerte Hafenstadt verändert. Der Weg durch die imposante, umfassend renovierte Festung Saint-Jean, eine mittelalterliche Zitadelle, endet abrupt. In lichten Höhen, über dem Meerwasser, geht es nur noch über eine schmale Passarelle weiter, die am Dach des MuCEM andockt. Der französische Architekt Rudy Ricciotti antwortet der monumentalen Festung mit Dematerialisierung des Museumsneubaus, gelegen auf einer der Altstadt vorgelagerten Landspitze zwischen Vieux Port und Industriehafen. Man landet also auf der Dachterrasse, einem öffentlichen Platz, in einzigartigem Raumerlebnis, nicht fassbar, bloß erlebbar. Ein flirrendes Gitterwerk in korallenartigem Muster umhüllt als zweite Haut das fünfgeschoßige Haus – ein zehn Zentimeter starkes “Gewebe“ aus matt-dunklem, ultra-hochfestem Spezialbeton, zwei Flächen als Fassade und die dritte komplettiert den Kubus mit einem Dach. Die fließend ineinander übergehenden, relativ konventionell angelegten Ausstellungen drinnen konnten meine Aufmerksamkeit nicht mehr in Bann ziehen, allzu sehr reizte das Auf und Ab über Rampen und Treppen, das außerirdische Spiel von Licht und Schatten in der mehrschichtigen Hülle zwischen Glasfassade und durchsichtigem Betonvorhang.

So subtil die ganze Anlage von der Festung her kommend oben, so desillusionierend ist der Blick von der Hafenebene aus, am ehemaligen Pier J4. Als Boulevard oder gar Platz will man die helle, stereotype Fläche nicht bezeichnen, auf der zwei Volumen stehen, die nichts anderes miteinander zu tun haben wollen, als ums Spektakel zu konkurrieren. Das MuCEM entpuppt sich hier als verglaster, dunkler Quader – der erlebnisreiche, begehbare Zwischenraum bleibt nur noch als Erinnerung. Aufnehmen kann es das in selber Bauflucht stehende, gleich hohe Volumen mit der nachbarschaftlichen Villa Mediterranée ohnehin nicht. Der Mailänder Architekt Stefano Boeri hat dieses fragwürdige Ausstellungs- und Veranstaltungsgebäude zu verantworten. Im Schnitt formt das Bauwerk ein großes C, das sich zum Meer hin öffnet, “es willkommen heißt“. Die unsichtbare untere Ebene ist mit einem Wasserbassin abgedeckt, die obere als gigantische 40 Meter ausladende, massive, stützenlose Konstruktion ausgebildet. Anstatt der 20 kostete es 73 Millionen Euro. Räumliche Qualitäten will ich nicht weiter erkunden, viel zu unangenehm ist jeglicher Annäherungsversuch!