Yann Mingard - Deposit

Wie verwaltet unsere säkulare Gesellschaft ihr Erbe und damit ihre Zukunft? Indem sie mit religiösem Eifer Daten sammelt und archiviert: Menschliche DNA in Form von hauchdünnen Nabelschnurscheibchen, Zahnproben und Sperma. DNA von Tieren, die nicht selten in der freien Natur bereits ausgestorben sind. Saatgut aller möglichen (Nutz)Pflanzen dieser Welt. Und natürlich Unmengen digitaler Daten, die wir auf den Big Data Bahnen des Internets, der Kreditkartenabrechnungen und amtlichen Register hinterlassen.

Von 2009 bis 2013 dokumentierte der Westschweizer Fotograf Yann Mingard (*1973) in seinem Projekt "Deposit" diese Sammel- und Lagerwut mit Bildern, die viele dringende Fragen unserer Zeit aufwerfen. Verwandeln Fortpflanzungstechnologien den Prothesengott Mensch in einen veritablen Schöpfer? Was bedeutet eine pflanzliche oder tierische Artenvielfalt, die nur noch theoretisch oder als rares Einzelexemplar in Labors, Zoos und botanischen Saatenbanken existiert? Werden in Zukunft uralte Menschheitsfantasien vom ewigen Leben eine konkrete biologische und medizinische Möglichkeit?

Yann Mingard bebildert diese weiten Fragenfelder mit auffallend dunklen Fotografien, auf denen sich medizinische Gerätschaften, Datenserver, menschliche, tierische und pflanzliche Proben, Innen- und ganz selten auch Aussenräume von Laboren und Archiven oft erst auf einen zweiten Blick herausschälen und abzeichnen. In vier Kapiteln behaupten seine Fotografien eine dunkle Rück- oder Kippseite des aufgezeigten wissenschaftlichen Fortschritts, in dessen Verlauf der Mensch die mächtige Natur immer weiter gezähmt, optimiert und seiner Analyse und Ordnungsmacht unterworfen hat. Im Kapitel Pflanzen zeigt Yann Mingard etwa vor nachtschwarzem Hintergrund ein unschuldiges kleines Glasgefäss. Darin befinden sich ein paar Samenkörnchen einer spanischen Pflanze, die weltweit nur noch in sechs botanischen Gärten existiert.

Im Abschnitt Tiere trifft ein kopulierender Stier auf einen durch eine Glasscheibe vom Tier getrennten Wissenschaftler, der in ein Mikroskop starrt: Fortpflanzung als scheinbar perfekt abgezirkelter und kontrollierter wissenschaftlicher Vorgang. Ein Zylinder, der aussieht wie eine altmodische Wäscheschleuder oder der Roboter R2-D2 aus Star Wars, ist ein Bild aus dem Kapitel Mensch. Die Bildlegende informiert, in dieser Silbertrommel warteten vier in flüssigem Stickstoff tiefgefrorene menschliche Gehirne und ein Hund auf eine Zeit, in der sie vielleicht wieder aufgetaut und zu neuem Leben erweckt werden können. Vor einem Felsimitat aus Spritzbeton wie man es von Militärbunkern kennt, steht ein uniformierter Security-Beamter. Im Berg hinter der künstlichen Steinwand lagern Server mit Unmengen alltäglicher, aber auch hochbrisanter Daten, von denen wir täglich mehr produzieren und riesigen Speichern anvertrauen.

Das sind nur vier Beispiele dafür, wie wir heute mit unserem virtuellen und materiellen Erbe umgehen. Gleichzeitig scheint im gleissenden Dunkel von Yann Mingards Fotografien etwas auf, wofür es abseits der Sprachen, Formeln und Codes der Naturwissenschaft und Medizin noch kaum Worte und Bilder gibt. Selbst die fantasiebegabten Science Fiction Autoren sind bis jetzt nur selten vorgedrungen in diese verrückt rationale Welt aus blitzblanken Petrischalen, schockgetrockneten Pflanzensamen, mit Gummivaginas kopulierenden Tieren und heisslaufenden Datenservern in alten Schutzbunkern. Die Ausstellung Deposit fordert dazu heraus, uns über diese Realitäten Gedanken zu machen.

Ein eigens für die Ausstellung produziertes Musikstück des in Island wohnhaften Komponisten Ben Frost (AUS) untermalt die Ausstellung akustisch. Frost ist bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Künstlern, Regisseuren, Filmemachern, aber auch mit Musikern wie Björk oder David Bowie. Begleitend zur Ausstellung erscheint ein reich illustriertes Buch im Steidl Verlag mit Essays von Jacques Arnould, Thomas Lemke sowie einem umfassenden Glossar zur Ausstellungsthematik von Lars Willumeit.

Yann Mingard - Deposit
8. März bis 25. Mai 2014