Wir haben hier eine Sozialkultur!

5. Juni 2008
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Es ist ja nicht so, dass mir Europa und speziell die Schweiz nun plötzlich völlig egal geworden wären. Es stimmt aber schon, dass mir in den vergangenen paar Monaten diesbezüglich nichts mehr in meinen ureigenen Sinn hereingekommen ist – ehrlich gesagt. Das in den Sinnhineinkommen wäre ja aber der Sinn des übern Tellerrand Guckens, Riechens, Witterns, Tastens, Schmeckens – oder gar Imaginierens.

Was hab ich also bloss getan während besagter vergangener Monate? Mich hier mehr eingelebt/gedacht natürlich, will sagen kultürlich. An dieser Stelle kann ich nun endlich mein Versprechen einlösen, das ich grosspurig am Schluss der letzten Kolumne abgegeben habe. Zum Punkt: Am 8. März (ironischerweise am Frauentag) wurde hier in Malaysia ein neues Parlament gewählt. Die traditionelle Regierungskoalition verlor dabei ihre seit der Unabhängigkeit von Grossbritannien praktisch in Stein gemeisselte Zweidrittelsmehrheit. Was bedeutet, dass sie jetzt nicht mehr nach Belieben die Verfassung ändern darf. Soweit die Fakten.

Die sozialkulturellen Folgen aus dieser Wahl sollen nicht beschönigt werden – aber auch nicht angstmoralisch dramatisiert. Auffällig ist, dass die Leute hier seitdem offener sich zu äussern getrauen. Dass traditionellerweise randständige Regionen wie die Provinz Sabah, in der ich zu meiner Freude Wohnsitz genommen habe, mehr ins Zentrum auch der politischen Diskussion rücken. Dass der Stil dieser Diskussion manchmal zu wünschen übrig lässt, aber alles in allem in einem hohen Grad zivilisiert bleibt. Dass das globalisierte Migrationsproblem bezüglich illegaler und halblegaler Einwanderer intensiv thematisiert, aber niemals als einziger und ausschliesslicher Fokus gehätschelt wird. Dass darüberhinaus vor allem die "Entwicklung der Entwicklung" gefordert wird, die diesbezüglichen Methoden aber zunehmend der Hinterfragung unterliegen dürfen.

Dass unter dem Strich, trotz aller Differenzen, in Malaysia und speziell in Sabah eine bewundernswerte Kultur der Toleranz gepflegt wird. Mit Betonung auf Kultur. Wir haben zwar nicht so viele Opernhäuser wie in Wien, Paris und sogar Zürich (hier wo ich mich aufhalte, das heisst in Kota Kinabalu, haben wir genau genommen gar keins und auch keine Sprechtheaterhäusle). Und wir haben auch nicht so viele Rote Fabriken, für Events adaptierte Kanzleien und Reithallen und aus Verarmungsgründen stillgelegte Schiffbaue – aber Kultur und auch Moods (die echten) haben wir alleweil.

Übern Tellerrand hinweg führe ich wöchentliche Skype-Out-Gespräche mit meinen Eltern im schweizerischen Zug. Das ist, abgesehen vom Privaten, auch immer Confoederatio-Helvetica-mässig hochinteressant. Erst kürzlich durfte ich von meinem 84-jährigen Vater erfahren, was sozialkulturell gegenwärtig bei den Eidgenossen so abgeht – und nicht nur bei denen. Verweilen wir kurz in der Schweiz: Offenbar beklagt sich da ein gewisser Herr Bloc... darüber, dass er nicht Berlusconi heisst und ist - mit anderen Worten: Dass er weniger Medienmacht (vor allem auch über die sogenannten staatlichen TV-Glotz-Fabriken) hat, als sein Vorbild im Süden. Darauf lässt sich nur eines entgegnen: Wer soviel Geld und sogar Kapital sein Eigen nennt und es trotzdem nicht schafft, Medienmacht zu erwerben, macht vieles bis alles falsch und braucht sich ergo nicht zu beklagen.

Vielleicht lebt Herr Bloc... auch im falschen Land, in einem nämlich, in dem ein grosser Teil der Bevölkerung noch nicht vollkommen eingeschüchtert und deswegen wirtschaftskulturell zwangsläufig und soziopsychologisch selbstgemacht dumm geworden wurde. Pech gehabt Herr Bloc..., kann ich da, meinen Vater aus vollem Herzen bestätigend, nur sagen. Ganz anders, und als ein übern-Tellerrand-Gucker erlaube ich mir ausnahmsweise auch einmal diesen schüchternen Blick ins Milliardärs-Paradies südlich des Lang- und Hochgebirgs, schauts in Italien aus.

Noch feiert dort – wie immer seit 1945 - nur die Mafia und noch nicht wirklich völlig der neo-waschechte Faschismus fröhliche Urständ. Aber!!!: Die Abfallentsorgung in Kampanien zielt schon nicht mehr bloss auf die lukrativ stinkenden Müllberge, sondern bereits auf die Roma. Hassen die vor und seit 2500 Jahren in den Stiefel eingewanderten Leute die Roma etwa so sehr, weil sie Menschen mit Bezeichnungen verwechseln und den Namen dieser Ethnie als Beschmutzung des reinen und heiligen Zentrums ihrer Welt auffassen, das zufälligerweise in der Mitte, aber - in der geo-perversen Gestalt des Vatikans - trotzdem ausserhalb des italienischen Staats liegt? Ich weiss es nicht.

Wie mein hochgeschätzter Ethnologieprofessor Lorenz G. Löffler zu sagen pflegte, als er noch nicht pensioniert war: Man muss halt die Leute fragen. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob das in Italien viel bringen würde. In der Schweiz bringts wohl bei der Hälfte der Bevölkerung noch was. Und in Malaysia, das weiss ich aus Erfahrung, bringts – zumindest jetzt noch – in jedem Fall viel. Den Grund habe ich schon genannt: Wir haben hier eine Sozialkultur!


Der Schweizer Journalist Beat Hochuli ist gemeinsam mit seiner Frau Liliane ins malaysische Kota Kinabalu ausgewandert und schickt von dort aus in unregelmässigen Abständen seine, also "überm Tellerrand" aus, getätigten Blicke auf westliche kulturelle und gesellschaftliche Prozesse.