Wildes Indien

Der indische Bundesstaat Arunachal Pradesh, das "Land der morgenbeschie­nenen Berge", ist aufgrund seiner Völkervielfalt und gewaltigen Naturschönheiten wohl weltweit unvergleichlich. 110 verschiedenen Volksstämmen, die zwischen Buddhismus und Geisterglaube stehen, bietet der in weiten Teilen noch unberührte Regenwald Lebensraum. Archaisch anmutende Formen des Zusammenlebens wie die Vielehe in Langhäusern, Tieropfer und Kopfjagd haben sich erhalten. 65 Jahre lang war das Gebiet aufgrund politischer Umstände für Fremde nicht zugänglich. Seine Erforschung steht erst am Anfang.

Der Frankfurter Forscher und Autor Peter van Ham (Jg. 64) bereist den Nordosten Indiens seit über 15 Jahren. Er hat darüber bislang fünf Bücher veröffentlicht. Es bedurfte einiges an Vertrauensbildung, bis die dortigen Menschen sich van Ham öffneten und merkten, dass es ihm wertfrei um Verständnis für das Wesentliche ihrer Kultur ging, um ihre Vorstellungen und ihre Zeichen, die sich hinter ihren Kulturäusserungen verbergen.

Ethnisch und kulturell haben diese Völker nur sehr wenig mit der Lebensweise im weithin bekannten Indien der Hindus zu tun. Völker wie die Nyishi, Mishmi oder Hrusso sind tibeto-burmesischer Abstammung. Über die Jahrhunderte haben sie Weltbilder entwickelt, die bis heute um archaisch anmutende Lebenskonzepte wie Abgrenzung, Stärke, Fruchtbarkeit und Klangesetze kreisen. Verbindend wirken vor allem die harten Lebensbedingungen in den Bergregenwäldern. Das Überleben in dieser Region ist schwierig, insbesondere wegen der mangelnden Fruchtbarkeit des Bodens.

"Fruchtbarkeit" ist deshalb auch ein Kernthema der Ausstellung. Um sie kreisen in Arunachal Pradesh und Nagaland sämtliche Sozialformen von den Bedingungen des Zusammenlebens über die Generierung von Status bis hin zur Religion. Auch die Kopfjagd gehört in diesen Kontext. Dem weltweiten Kulturphänomen "Kopfjagd", das zum einen oder anderen geschichtlichen Zeitpunkt in nahezu allen Kulturräumen der Erde auftrat, haftet etwas Faszinierend-Abstossendes an. Bei den Naga ist sie bis heute präsent. Die Ausstellung setzt sich mit ihr auf gemässigte Weise sowie inhaltlich stimmig und korrekt auseinander. Sie macht so die Kopfjagd dem Besucher als ethisch stark reglementierte Umsetzung des Fruchtbarkeitsideals plausibel und begreiflich.

Im frisch sanierten Ausstellungsflügel Nord präsentiert das Museum auf 400 m2 Geschichte und Gegenwart von Arunachal Pradesh und Teilen Nagalands, eingeteilt in drei Kulturzonen: die nördliche, von Tibet und Bhutan geprägte Zone, das animistische Zentrum und den von Burma beeinflussten Süden. Der Besucher kann in diese Welten eintauchen und begegnet einer Fülle spannender, faszinierender und auch befremdlicher Objekte: Masken und Webarbeiten, Schmuck oder einheimischen Geldformen.

Einen Höhepunkt bildet der hintere Ausstellungssaal, der ganz den Naga-Völkern des Südens von Arunachal Pradesh und den angrenzenden Teilen Nagalands gewidmet ist. Man ist schier überwältigt von der Schönheit und der Fantasie, mit der die Naga ihre Textilien, Kopfputze und Dinge des täglichen Lebens gestaltet haben. Der menschliche Kopf oder symbolische Darstellungen davon findet sich in einem Grossteil der Exponate – von Halsketten über Körpertücher und Skulpturen bis zu Tabakspfeifen. Sie sind als Ausdruck der Wertschätzung zu verstehen, die diese kopfjagenden Gesellschaften dem Leben schon immer entgegengebracht haben.

Die Objekte stammen aus der umfangreichen Privatsammlung Peter van Hams und den Beständen des HVM. Dazu kommen verschiedene Leihgaben aus der weltweit ältesten Sammlung zu Arunachal Pradesh, aus dem Völkerkundemuseum Dresden sowie aus Privatsammlungen in Deutschland, Frankreich und Italien.

Bei der Inszenierung der Ausstellung "Wildes Indien" geht das HVM neue Wege. Die Besucher sollen in diese nordostindischen Welten regelrecht eintauchen können, sollen sie sinnlich erleben können. Die Objekte werden in lockeren, insulär angeordneten Gruppen präsentiert. Es gibt Original-Klangcollagen aus dem Regenwald oder aus buddhistischen Klöstern. Es gibt Filmprojektionen und Lichteffekte sowie Skulpturen der französischen Bildhauerin Nathalie Sury und seltene Präparate der lokalen Tierwelt aus der Sammlung des St. Galler Naturmuseums. Der Anteil der sichtbaren Texte ist reduziert, zusätzliche Informationen finden die Besucher auf A4-formatigen Texttafeln, die sie in die Hand nehmen können.

Ergänzt wird die Ausstellung mit zwei Räumen, die diesem "wilden", unbekannten Indien das bekannte gegenüberstellen. Sie zeigen die Vielfalt der "Bilder", die sich der Westen von diesem Indien machte und macht. Dabei steht das reale Indien neben einem imaginären, oft überlagern sich die beiden auch. Ein "britisch-indischer Bilder-Pavillon" zeigt Highlights aus der Sammlung des Historischen und Völkerkundemuseums St. Gallen: Aquarelle der britischen Maler Thomas und William Daniell (um 1790) und Fotografien des Briten Samuel Bourne (um 1850) ermöglichen z.B. spannende Vergleiche zwischen den Medien "Aquarell" und "Fotografie". Eine "st.gallisch-indische Wunderkammer" thematisiert die Kontakte St.Gallens mit Indien in den letzten 200 Jahren – Gegenstände, Bilder und Geschichten, aber auch Fakten, Klischees und Fantasien. Indische Elefanten und Tiger, die in St.Gallen gezeigt wurden, sind ebenso ein Thema wie Völkerschauen, Kinofilme und das erste Yoga-Studio. Auch fünf frühe Indienreisende werden vorgestellt, unter ihnen der Gossauer Färbereibesitzer J.J.Kelly (1843) und die Rapperswiler Kunstmalerin Martha Burkhardt (1911).

Wildes Indien
Himalaya zwischen Tibet und Burma
4. Mai 2013 bis 19. Januar 2014