The What If?

"Cerith Wyn Evans: The What If?… Scenario (after LG)" ist die vierte Ausstellung von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary im Wiener Augarten und leiht sich mit dem Titel von Liam Gillicks gleichnamiger Ausstellung aus dem Jahr 1996 auch dessen spekulativen Charakter über einen prekären und imaginativen Zukunftssinn. Zu sehen sind die leuchtenden und illuminierenden Arbeiten des walisischen Künstlers, die von TBA21 über zehn Jahre gesammelt wurden und hier zum ersten Mal zusammen gezeigt werden.

Im Zusammenspiel mit einer neu kommissionierten Neonarbeit "A Community Predicated on the Basic Fact Nothing Really Matters" entsteht so ein einzigartiges Arsenal des künstlerischen OEuvres und als solches Wegweiser zu vielfältigen Fragen und Entwürfen. "Sprechende" Kronleuchter, Morsecode emittierende Apparaturen, Installationen, die unsere Sehgewohnheiten theatralisieren und Neonarbeiten mit eingewobenen Referenzbezügen - diese und andere künstlerische Signaturen, die Wyn Evans Werk bestimmen, entfalten in "The What If?… Scenario (after LG)" ein Netz künstlerischer, literarischer und intertextueller Verweise, die darauf warten, zum Vorschein zu treten und von den BetrachterInnen erfasst, durchschaut und dekodiert zu werden.

In der Tradition der essentiell monographischen, jedoch spezifisch dialogischen Ausstellungen im Augarten, die sich jeweils als künstlerische Begegnungen darstellten, präsentiert die Ausstellung Cerith Wyn Evans’ Kollaboration mit dem deutschen, in Wien lebenden Künstler Florian Hecker, "No night No day", die 2009 im Teatro Goldoni im Rahmen der 53. Biennale in Venedig erstmals gezeigt wurde. Die Zusammenführung zweier unabhängig voneinander entstandener künstlerischer Ereignisse - die filmische Arbeit von Wyn Ewans und die pluriphonische Soundarbeit von Hecker – versteht sich als Dialog aber auch als Debatte. "No night No day" wird erstmals als installative Arbeit gezeigt, die der räumlichen Konfiguration im Augarten angepasst ist.

Die neu kommissionierte Arbeit "A Community Predicated on the Basic Fact Nothing Really Matters" nimmt zudem die Kollision hoch-energetischer Teilchen in einem Teilchenbeschleuniger zum Thema, überlagert von der von Albert Hofmann erfundenen chemischen Strukturformel von LSD. (Spekulative) Wahrnehmung und drogistische Erfahrung werden in wissenschaftliche Systeme einbezogen, Heuristik und Glauben, Kommunikation und Illustration verwandeln die abstrakte geometrische Figur der Neonarbeit zu einer Chiffre für die Theoretisierung des universalen Elementarteilchens, des Higgs-Bosons, das vor genau einem Jahr, am 4. Juli 2012 vorläufig nachgewiesen wurde.

"The What If?… Scenario (after LG)" schafft also die Voraussetzung für eine Vielzahl von Möglichkeiten, Kontingenzen und Unsicherheiten im Bezug auf gegebene Bedingungen und Strukturen dessen, was wir sehen und was wir wissen, beziehungsweise der Art und Weise, wie wir zu diesem Wissen kommen. Die angebotenen Szenarien verbleiben in "schwachen Verknüpfungen" und verfestigen sich nicht zu eindeutigen Aussagen. Wyn Evans’ künstlerische Strategie unterbricht unseren gewohnten Zugang zur Welt der Objekte und Bedeutungen, indem sie unsere Assoziations- und (Wieder)erkennungsmuster stört, Lücken lokalisiert, feinstoffliche Assoziationen, anekdotische Abweichungen, Kontingenzen, und Übersetzungsfehler andeutet.

Wyn Evans benutzt fast ausschließlich das "schon Geschriebene", inszeniert es allerdings als Ereignis, "verqueert es", versetzt und verbindet es neu und erzeugt dennoch Unvorhersehbares. Indem er dabei Film, Licht, Kommunikationstechnologien wie Morsecode, literarische Fragmente und Zitation einsetzt, kompliziert er die Materialität und die strukturellen Aspekte von kodifizierter Kommunikaton und Text an den Schwellen der Installation. Er erkundet und nutzt die Grenzen visueller Wahrnehmung, die Latenz der Retina, und setzt gekonnt strukturalistische Aspekte von vorwiegend Film und Literatur ein. Er spielt mit der psychophysischen Bedingtheit seiner BetrachterInnen, nähert sich seinem oder ihrem Sensorium in vielstimmigen audiovisuellen Sprachen. Diese entfalten sich dann, wenn sie übersetzt, dekodiert und innerhalb eines offenen Bedeutungshorizontes interpretiert werden, ohne je vollkommen die Kontrolle über den angelegten Interpretationsrahmen abzugeben.

In dem Versuch, eine (Re-)Konstruktion jenes konzisen Gemischs von Ideen und Hinweisen zu liefern, die Cerith Wyn Evans’ OEuvre, voller Schatten und Spuren, Andeutungen und Referenzen, ausmachen, bringt der begleitende Katalog The What If?… Scenario (after LG) eine polyphone Ansammlung von Stimmen und Strängen zusammen und stellt den Versuch dar, so etwas wie einen „imaginären Zukunftssinn“ zu (re)konstruieren.

Publikation: "Cerith Wyn Evans: The What If? Scenario… (after LG)". Herausgegeben von TBA21 / Eva Wilson und Daniela Zyman, ca. 130 Seiten, in englisch. Sternberg Press, Berlin; Design von John McCusker and Sara Hartman. Mit Essays von Liam Gillick, Florian Hecker, Carsten Höller, Robin Mackay, Jeannie Moser, Molly Nesbit, Olaf Nicolai, Martin Prinzhorn, Maria Spiropulu, Eva Wilson, Cerith Wyn Evans und Daniela Zyman. Installationsansichten von Jens Ziehe, Erscheinungsdatum: 4. Juli 2013

Cerith Wyn Evans: The What If? Scenario… (after LG)
5. Juli bis 3. November 2013