Was Wir Sehen

Die Ausstellung "Was Wir Sehen" setzt sich mit der verstörenden Geschichte historischer Ton- und Bilddokumente aus dem südlichen Afrika auseinander. Im Zentrum steht das 1931 von dem deutschen Künstler Hans Lichtenecker als "Archiv aussterbender Rassen" angelegte Körperarchiv von Afrikanerinnen und Afrikanern in Namibia, dem ehemaligen (Deutsch-)Südwestafrika.

"Was Wir Sehen" rückt das Sprechen jener Menschen in den Mittelpunkt, die innerhalb eines kolonialen Kontextes Gesichtsabformungen, Körpervermessungen, anthropometrisches Fotografieren und Stimmaufnahmen erdulden mussten. Auch Stimmen galten als anthropologisches Sammlungs- und Klassifizierungsgut und wurden von Lichtenecker auf Wachswalzen aufgezeichnet. Die afrikanischen Texte wurden erst kürzlich von der Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann wiederentdeckt und konnten übersetzt werden.

Was Afrikanerinnen und Afrikaner 1931 über das beklemmende Anthropometrie-Projekt und über ihr Leben in der südafrikanischen Kolonie mitteilten, erfahren wir erst heute. Die Ausstellung konstruiert einen fragilen Raum von Bildern und Stimmen, Geschichten und Porträts, historischen Dokumenten und aktuellen Kunstwerken. Das koloniale Körperarchiv von Hans Lichtenecker wird nicht nachgebildet. Vielmehr werden seine audiovisuellen Repräsentationspraktiken kritisch und mittels unterschiedlicher Ton- und Bildmedien beleuchtet.

Die Ausstellung war bereits in der IZIKO Slave Lodge in Kapstadt (Südafrika) sowie in den Basler Afrika Bibliographien zu sehen und wird erstmals in deutscher Übersetzung in Wien gezeigt. Anette Hoffmanns kritische Aufarbeitung von Lichteneckers Projekt dekonstruiert auf eindrückliche Weise die erniedrigende Praxis der Vermessung des Menschen im ehemaligen (Deutsch-)Südwestafrika seit dem späten 19. Jahrhundert, die auch in der österreichischen ethnographisch-anthropologischen Forschung ihren Niederschlag fand.

Einer der Gründerväter der österreichischen Anthropologie, Rudolf Pöch, sammelte im Rahmen der Kalahari-Expedition bereits 1907 Tonaufnahmen, Gipsabdrücke, menschliche Überreste und Ethnographica, die heute zum Bestand des Phonogramm-Archivs Wien, des Naturhistorischen Museums und des Museums für Völkerkunde Wien zählen. Das Rahmenprogramm zur Ausstellung "Was Wir Sehen" greift diese Bezüge zu Wien in Form einer Exkursion in die Abguss-Sammlung des Naturhistorischen Museums sowie eines Vortrags zu Rudolf Pöchs anthropometrischen Forschungen auf.

Die Ausstellung setzt sich anhand von Lichteneckers Dokumenten, insbesondere seinen Fotografien und seinem Tagebuch, kritisch mit der Produktion seines anthropometrischen Archivs auseinander. Die in der visuellen Repräsentationspraxis zum Ausdruck kommende Objektivierung von Menschen, die seinem Archiv inhärent ist, wird durch die Kommentare der betroffenen Menschen gebrochen und infrage gestellt. In der Ausstellung sind diese Kommentare in den Sprachen Otjiherero und Khoekhoegowab zu hören und in deutscher Übersetzung zugänglich. Sie legen nicht nur den damaligen erniedrigenden Prozess der Klassifizierung nach "Rassen" und Typen bloß, sondern enthalten auch gezielt formulierte "Nachrichten an Deutschland", die erst jetzt, mit einer Verzögerung von 80 Jahren, zu hören sind.

Die Tonaufnahmen machen außerdem deutlich, dass die fotografische Darstellung, zumal in ihrer verschärften anthropometrischen Form, bedeutsame Aspekte des sozialen Selbst nicht wiedergeben kann. Das Hören der Kommentare erlaubt eine Verschiebung der Wahrnehmung von kolonialer Geschichte – die eher gesehen oder gelesen wird –, womit die Reflexion der Ausstellungsbesucherinnen und –besucher in Bezug auf die eigenen Sehgewohnheiten verstärkt wird.

Zur Ausstellung liegt der mit vielen Fotografien, Tontranskriptionen und Übersetzungen von Anette Hoffmann herausgegebene wissenschaftliche Aufsatzband "What We See. Reconsidering an Anthropometrical Collection from Southern Africa: Images, Voices, and Versioning" (Basler Afrika Bibliographien 2009, in englischer Sprache) vor.

Was Wir Sehen
Bilder, Stimmen, Repräsentation
Zur Kritik einer anthropometrischen Sammlung aus dem südlichen Afrika
Eine Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Kooperation mit
dem Zentrum Moderner Orient und den Basler Afrika Bibliographien
25. Mai bis 19. September 2011