Die Ausstellung "Walk this way" im Kunstmuseum Ravensburg schlägt einen Bogen von den 1960er Jahren bis heute und lenkt den Blick auf Werke zeitgenössischer Künstler:innen, in denen die Stadt zur Bühne und der Akt des Gehens zum künstlerischen Statement wird. Die Schau versammelt Arbeiten von Künstler:innen, die spielerisch bis provokativ ihre eigenen Wege der Erkundung, Aneignung, Umdeutung und Neubesetzung beschreiten und zeigt eine Welt in Bewegung, in die die Betrachter:innen sinnlich und emotional einbezogen werden.
Der öffentliche Raum der Stadt ist seit jeher ein Ort des Sehens und Gesehenwerdens. Die vielfältige, sich stetig verändernde Architektur einerseits und die immer schneller werdenden Bewegungen der Passant:innen andererseits haben zu einem Reichtum an neuen Eindrücken und Lebenswelten geführt. Die Avantgarden der 1960er Jahre reagierten darauf: Die Situationistische Internationale setzte sich in ihrer "Psychogeographie" mit der Wechselwirkung von geographischer Umgebung und emotionaler Raumerfahrung auseinander und entwarf Stadtvisionen, die nicht auf Ökonomie, sondern auf kollektive Kreativität und Spielfreude zielten. Mit ihren Aktionen deckten Künstler:innen die sexualisierten Blicke der Passant:innen auf und reklamierten ein Nachdenken über festgelegte Geschlechterrollen und Identitätsbilder. Auf vielfältige Weise haben Künstler:innen seitdem ihre eigenen Erzählungen in die Städte eingeschrieben und den urbanen Raum zum Austragungsort künstlerischer Fragestellungen und zum Verhandlungsraum gesellschaftspolitischer Anliegen gemacht.
Wem gehört der urbane Raum, wer gestaltet ihn und wie navigiert man darin? Viele künstlerische Arbeiten setzen sich mit diesen Fragen auseinander: Guy Debord, ein visionärer Denker der Situationistischen Internationale, stellt mit seinem Stadtplan " The Naked City" (1957) und seinem psychogeographischen Stadtführer (1957) kapitalistische Ansätze der Stadtgestaltung und gängige Reiseführer in Frage. In der Tradition dieser Studien und der Dérives, der endlosen subjektiven Streifzüge der Situationist:innen, entwirft Larissa Fassler - nach monatelangen persönlichen Erkundungen - Porträts städtischer Räume, wie zum Beispiel vom Gare du Nord, dem größten Bahnhof Europas. In diesen vielschichtigen Kartografien zeichnen sich die Architektur, die menschliche Aktivität darin und ihre unverwechselbare Atmosphäre ab. Wie der zu Fuß gehende Mensch die autogerechte Stadt zurückerobern kann, demonstriert Gerhard Lang mit seinem "mobilen Zebrastreifen" (1993), der überall problemlos ausgerollt werden kann, um nach Belieben die Straßenseite zu wechseln.
Als Utopie für eine ganze Metropole entwickelt Constant, ebenfalls für kurze Zeit Mitglied der Situationist:innen, seine Architekturvision "New Babylon" (1963), die dem spielenden Menschen gewidmet ist. In der Arbeit "Ear to the Ground" von John Sanborn (*1954 US) und Kit Fitzgerald (*1953 US) wird die Stadt zum Spielfeld: Der Perkussionist David Van Tieghem macht sich die Straßen Manhattans musikalisch leichtfüßig zu eigen: Mit Drumsticks spielt er virtuos auf Asphalt, Fassaden, Telefonzellen und Mülleimern.
Der Gang auf die Straße ist ein probates Mittel, um gesellschaftliche Machtverhältnisse zu entlarven, so auch bei Valie Exports und Peter Weibels Aktion "Aus der Mappe der Hundigkeit". In einer öffentlichkeitswirksamen Performance führte Export 1968 ihren damaligen Partner und Künstlerkollegen wie einen Hund an der Leine durch die Wiener Innenstadt und radikalisierte damit spielerisch und provokativ die Geschlechterverhältnisse. Bei Pipilotti Rist wird das Gehen zum Akt der Befreiung. In "Ever Is Over All" (1997) schlägt eine Frau mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Blumenstängel in den Händen die Scheiben parkender Autos ein, das Ganze in Zeitlupe - ein gewalttätiger Angriff wird zum Ausdruck von Freiheit und Lebensfreude. Im Februar 2015 ging die afghanische Künstlerin Kubra Khademi in einer metallenen Rüstung durch das belebte Zentrum von Kabul. Die Rüstung schützte ihren weiblichen Körper. Mit dieser Aktion setzte Khademi ein Zeichen gegen die sexuelle und verbale Belästigung, der Frauen in der Öffentlichkeit ausgesetzt sind. Um den weiblichen Körper geht es auch in **Yolanda Domínguez' ** Videoarbeit "Pose N°5" (2013), in der sie die Schönheitsideale der Modemagazine ad absurdum führt, die weibliche Stereotype verstärken und den Körper als Ware präsentieren.
Seit Ende der 1970er Jahre erregt Pope.L mit ihren "Crawling Performances" Aufsehen. Für "The Great White Way" kriecht er im Superman-Kostüm über den Broadway, der auf einzigartige Weise für das Versprechen von Ruhm und Reichtum steht. Pope.L erinnert daran, dass es noch ein weiter Weg ist, bis Rassismus, Diskriminierung und die Kluft zwischen Arm und Reich überwunden sind. Ein Zeichen des Widerstands setzt auch Sharon Hayes: Per Megaphon richtet sie an öffentlichen Plätzen in Manhattan Botschaften an eine:n namenlose:n Geliebte:n, die aus Textfragmenten von Oscar Wildes Brief an seinen Liebhaber stammen und aus Slogans des Tag der Schwulenbefreiung. Hayes unterstreicht damit die Hoffnung, die in der freien Meinungsäußerung und Lebenswahl liegt.
Als Stabführerin einer Blaskapelle leitet Regina José Galindo eine Gruppe von Musiker:innen, die sich zu Marschmusik langsam rückwärts durch Guatemala-Stadt bewegt. Es ist ein Bild für den gesellschaftlichen Rückschritt des Landes und zugleich für den Rückzug der Demokratien weltweit. Eine Soundcollage des Protests komponiert Olaf Nicolai mit seinem Hörstück "In the Woods there is a Bird" (2017). Der Künstler verdichtet unbearbeitetes Tonmaterial, das Radiokorrespondent:innen aus aller Welt bei Demonstrationen und politischen Unruhen aufgenommen haben, zu einer kraftvollen Komposition, die unmittelbar das Bildgedächtnis triggert. Der Titel der Arbeit von Pravdoliub Ivanov "Protest Yourself" (2022) spielt mit der Analogie "protect yourself / protest yourself" ("Schütze dich / Setze dich für dich selbst ein"). Auf Fotos von Protesten hat der Künstler die Slogans von den Protestbannern entfernt. Das ist kein Zeichen von Sprachlosigkeit: Der weiße Fleck bietet Raum für die Botschaften der Ausstellungsbesucher:innen - im Glauben an die Kraft der Partizipation.
Wie leicht die digitale Realität manipulierbar ist, zeigt Simon Weckert mit seiner Aktion "Google Maps Hacks" (2020). 99 Smartphones, die Weckert in einem Bollerwagen an der Zentrale von Google Maps vorbeischleppt, reichen aus, um überall dort, wo der Künstler entlanggeht, einen virtuellen Stau anzuzeigen. Mit der Künstlichkeit der Medien beschäftigt sich auch John Smith in seinem Film "The Girl Chewing Gum". Durch einen charmanten Trick der Postproduktion werden darin Passant:innen zu Akteur:innen, die seinen Regieanweisungen zu folgen scheinen.
Das kontroverse Verhältnis von öffentlicher Sicherheit und staatlicher Überwachung wird in mehreren Arbeiten thematisiert. Der belgische Künstler Francis Alÿs ist bekannt für seine Streifzüge durch den urbanen Raum. In "Re-enactment" (2000) thematisierte er Gewalt und Kriminalität, indem er sich mit einer entsicherten Pistole durch Mexico City bewegte. Es dauerte 11 Minuten, bis die Polizei ihn festnahm. In vielen Städten erfassen Überwachungskameras unser Verhalten im öffentlichen Raum, speichern Daten, werten Verhaltensmuster und Auffälligkeiten aus. Die niederländische Fotokünstlerin Esther Hovers setzt sich in ihrer Arbeit "False Positives" mit den gegenwärtigen und zukünftigen Funktionsweisen von Massenüberwachung und künstlicher Intelligenz auseinander. Bewusst mit Normen bricht die afroamerikanische Künstlerin Adrian Piper in ihrer radikalen Performance-Serie "Catalysis": Mit tropfender weißer Farbe und der Warnung "Wet Paint" ("frisch gestrichen") geht sie Anfang der 1970er Jahre einkaufen. Alle Augen sind auf sie gerichtet, man hält vorsichtshalber Abstand. Identität, Rassismus und Geschlechterdiskriminierung sind zentrale Themen ihrer Arbeit. Das Video "Work No. 1701" von Martin Creed zeigt dagegen einen menschenfreundlichen und inklusiven öffentlichen Raum und sensibilisiert für den Akt des Gehens an sich. Im Takt eines fröhlich-schrammelnden Indie-Pop-Songs überqueren Passant:innen eine Straße in New York: Junge und Alte, Menschen mit Behinderungen und Verletzte streben vorwärts, als könne sie nichts aufhalten.
In Auseinandersetzung mit August Rodins Denkmal für die Bürger von Calais stellt Asta Gröting in ihrer Skulptur silberne Sneaker in den Abguss der überdimensionalen Füße von Eustache de Saint Pierre, dem Anführer der sechs tapferen Bürger, die im Hundertjährigen Krieg bereit waren, sich für ihre Stadt zu opfern. In den Füßen Saint Pierres manifestieren sich Standhaftigkeit und Opferbereitschaft. Gröting wirft die Frage auf, wie schwer es sein kann, in die Fußstapfen eines anderen zu treten. Den Blick auf die alltägliche Arbeit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu lenken, gelingt Mierle Laderman Ukeles in ihrer Performance "Touch Sanitation" (1979-1980). Sie schüttelt rund achteinhalbtausend Angestellten die Hand: "Danke, dass Sie New York am Leben erhalten".
Eine Aktion, die ganz im Sinne der Begründerin der Maintenance Art das soziale Miteinander feiert und gesellschaftliche Wertschätzung einfordert. Auch Krzystof Wodiczko macht auf ein wenig beachtetes Thema aufmerksam. 1988 baute er in seiner Wahlheimat New York gemeinsam mit Obdachlosen den Prototyp eines Wohnmobils, um auf deren Not und Bedürfnisse aufmerksam zu machen.
Schließlich appelliert Florian Slotawa mit seinen "Museums-Sprints" (2000-2001) indirekt an alle Besucher:innen. Ganz nach den Regeln des Sports entschied er sich, die Bestzeit im Sprint durch Museen zu ermitteln. Für seinen schnellsten Sprint benötigte er nur 45 Sekunden. Die Läufe versprechen Kunst im Schnelldurchlauf und mahnen gleichzeitig zur Entschleunigung. Dabei wirft die erreichte "Bestzeit" die Frage nach der optimalen Verweildauer auf. Wie viel Muße braucht das einzelne Werk und wie viel Zeit nehmen wir uns für den Besuch?
Die Ausstellung "Walk this way" versteht sich als Einladung, sich mit den wegweisenden Pfaden der Arbeiten auseinanderzusetzen, in denen die Künstler:innen zu Fuß den Stadtraum erkunden, neu definieren oder bestehende Grenzen überschreiten, um sozial- und gesellschaftspolitisch relevante Themen zu verhandeln - verbunden mit der Aufforderung, sich selbst in Bewegung zu setzen.
Mit Arbeiten von Francis Alÿs, Charles-Auguste, Constant, Martin Creed, Guy Debord, Yolanda Dominguez, Valie Export/Peter Weibel, Larissa Fassler, Regina José Galindo, Kit Fitzgerald/John Sanborn, Asta Gröting, Sharon Hayes, Esther Hovers, Pravdoliub Ivanov, Kubra Khademi, Pope. L, Gerhard Lang, Olaf Nicolai, Adrian Piper, Pipilotti Rist, Florian Slotawa, John Smith, Mierle Laderman Ukeles, Simon Weckert und Krzysztof Wodiczko.
Walk this way
bis 23.2.2025