Vor dem Gesetz

Die Frage nach den grundlegenden Bedingungen des Menschseins ist von zeitloser und gleichsam dringlicher Bedeutung. Tagtäglich sind Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf die menschliche Würde zu beobachten – die medialen Bedingungen erlauben dabei einen scheinbar immer gründlicheren Blick.

Die Ausstellung "Vor dem Gesetz" widmet sich in ebenso konzentrierter wie umfassender Weise dem zentralen Thema der menschlichen Existenz und ihrer Verletzlichkeit. Mit großer Unmittelbarkeit verbildlichen die Skulpturen der Nachkriegszeit und Räume der Gegenwartskunst die Auseinandersetzungen mit der Conditio Humana.

Titelgebende Parabel und Metapher für das Thema der Ausstellung ist Kafkas gleichnamige Kurzgeschichte. Sie erzählt, wie ein Mann vom Lande um Einlass in das Gesetz bittet. Ein Türhüter verwehrt ihm den Zugang und vertröstet ihn immer wieder auf einen möglichen späteren Zeitpunkt. Der Mann vom Lande bleibt sein ganzes Leben lang in wartender Position vom Gesetz ausgeschlossen. Der sich über die Jahre nicht verändernde Türhüter ist dabei die überzeitliche statuenhafte Gegenfigur zum alternden Individuum, das der Mann vom Lande verkörpert.

Bemerkenswert ist im Vergleich zu anderen Definitionen Kafkas Entwurf des Gesetzes als Raum, der betretbar und endlich ist, zu dem es einen Zugang oder von dem es einen Ausschluss gibt. Die Ausstellung greift dieses Gedankenbild auf und entwickelt eine die gesamte zweite Etage umspannende Raumsituation, in der die 24 künstlerischen Positionen sehr dezidiert ihren eigenen Ort definieren.

"Vor dem Gesetz" vereint figurative Skulpturen der Nachkriegszeit mit aktuellen Positionen und spannt damit einen Bogen über die vergangenen sechzig Jahre. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stellt eine zentrale Zäsur im Hinblick auf Menschenrechte und Menschenwürde dar, die ausschlaggebend für das heutige Verständnis wurde und Niederschlag im ersten Artikel des Deutschen Grundgesetzes fand. Vor diesem Hintergrund bilden die Werke der Nachkriegszeit, die den geschundenen, verletzten und gefährdeten Menschen in großer Direktheit zeigen, den argumentativen Kern der Ausstellung.

Statuen von Germaine Richier, Gerhard Marcks oder Alberto Giacometti geben dem traumatisierten Menschen Gesicht und Körper und finden eine künstlerische Ausdrucksform für die Sprachlosigkeit der Zeit. Sie bilden den Ausgangspunkt für die Betrachtung der zeitgenössischen Installationen von Künstlern wie Phyllida Barlow, Paul Chan oder Zoe Leonard. Im Gegensatz zu ihren historischen "Vor-Bildern" haben diese Werke die figürliche Darstellung des Menschlichen weitgehend aufgegeben. In häufig räumlicher Dimension und unter Verwendung der unterschiedlichsten Materialien nähern sich die Künstler den immer weiter aufgesplitterten und komplexen Bedingungen der menschlichen Gegenwart.

Die Ausstellung "Vor dem Gesetz" zeigt nicht nur die anhaltende Aktualität und Aussagekraft figurativer Nachkriegsskulptur, sondern schärft durch den historischen Kontext vor allem den Blick für das humanistische Potential für Gegenwartskunst. In einer Zeit zunehmender Verunsicherung und Schnelllebigkeit scheint die Auseinandersetzung mit einer Kunst notwendig, die mit Ernsthaftigkeit auf der Kategorie des Menschlichen insistiert.

KünstlerInnen: Pawel Althamer, Carl Andre, Phyllida Barlow, Karla Black, Monica Bonvicini, Reg Butler, Paul Chan, Jimmie Durham, Alberto Giacometti, Candida Höfer, William Kentridge, Marko Lehanka, Wilhelm Lehmbruck, Zoe Leonard, Giacomo Manzù, Gerhard Marcks, Marino Marini, Henry Moore, Bruce Nauman, Germaine Richier, Thomas Schütte, Andreas Siekmann, Andreas Slominski, Ossip Zadkine

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog im Verlag der Buchhandlung Walther König mit Beiträgen von Penelope Curtis, Friedrich Wilhelm Graf, Kasper König, Thomas Macho und Thomas D. Trummer.

Vor dem Gesetz
Skulpturen der Nachkriegszeit und Räume der Gegenwartskunst
Eine gemeinsame Ausstellung des Museum Ludwig und der Siemens Stiftung
17. Dezember 2011 bis 22. April 2012