Von Schwelle zu Schwelle

Mit dem 14. Mies van der Rohe-Stipendium fördern die Kunstmuseen Krefeld die junge Künstlerin Latifa Echakhch, die mit ihren poetischen, oftmals "leisen" Objekten und raumgreifenden Installationen aus alltäglichen Gegenständen und Fundstücken immer wieder auf gesellschaftliche, nationale und kulturelle Zustände und Klischees verweist. Ihre Werke berühren durch eine sinnliche, mitunter beiläufige Erscheinung und entfalten weitreichende Denk- und Assoziationsräume.

Latifa Echakhch (geb. 1974 in El Khansa, Marokko, lebt und arbeitet in Martigny, Schweiz) arbeitet zumeist mit einfachen Materialien und Dingen wie Teegläsern, Teppichen, Turnschuhen, Fahnenstangen, Schießpulver, Tee oder Steinen, deren versteckte Symbolik sie durch minimale Eingriffe hervorkehrt. So erinnert sie in der raumgreifenden Arbeit "À chaque stencil une révolution" (2007) mit Karbon-Papier an die Protestbewegung der späten 1960er Jahre, als Durchschlagpapier noch eines der wichtigsten Vervielfältigungsmittel darstellte. Für das Museum Haus Esters entwickelt Latifa Echakhch eine Ausstellungskonzeption, in der sie aktuelle, bereits existierende Objekte mit Werken, die speziell für Krefeld neu entstehen, zu einer Einheit zusammenfasst.

So wird beispielsweise die Arbeit "Tour de Babel", die Latifa Echakhch als work in progress 2010 begonnen hat, nun im Haus Esters fortgesetzt. Es handelt sich hierbei um ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem die Mitspieler hölzerne Bauklötze zu einem Turm schichten. Der Turm wird im nächsten Schritt wieder demontiert, in dem die Spieler einzelne Klötze aus der Konstruktion herausziehen. Derjenige Spieler hat verloren, bei dem der Turm seine Stabilität verliert und zusammenbricht. Spielerische Leichtigkeit und ein biblisch ikonographischer Topos – der Turmbau zu Babel verantwortete die Verwirrung der Sprachen und die Zerstreuung der Völker (Genesis 11, 1-9) – prallen in dieser Arbeit aufeinander.

Für Tour de Babel hat Latifa Echakhch bislang sechs Türme realisiert. Jeder existiert nur in einer Fassung, je nachdem, wieweit die Künstlerin das Spiel vorangetrieben hat. Als work in progress entspricht "Tour de Babel" jedoch nicht einem offenen Spielfeld, auf dem immer wieder aufs Neue mit dem Bau der Türme begonnen werden kann. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche gefrorene Zustände, die von einer intakten Konstruktion bis zum architektonischen Desaster, gedankenlos im spielerischen Eifer erzeugt, reichen.

In einem weiteren Werk bezieht sich die Künstlerin auf die Akrobatik am Seil, wie man sie aus der Welt des Zirkus kennt. Ein einfaches, von der Decke hängendes Seil bildet eine in sich verschlungene Bewegungslinie im Raum aus. Der Akrobat hat die Manege schon längst verlassen. Es bleibt allein eine abstrakte, materielle Linie als Spur seiner auf Kraft und Geschick basierenden Kunst. Beide Werke verkörpern einen momenthaften Zustand, der aus dem alltäglichen Zeitlauf heraus gefallen zu sein scheint und nun beunruhigend frei als materielle Spur einer vergangenen Handlung und als symbolisches Bild existiert.

Über diese Arbeiten hinaus richtet Latifa Echakhch ihr Interesse mit der Ausstellung auf die Textilfabrikation, die in Krefeld eine lange Tradition hat. Hermann Lange und Josef Esters, die beiden Bauherren der Häuser und Auftraggeber von Mies van der Rohe, saßen dem Vorstand der Verseidag (Vereinigte Seidenwebereien) vor. Für die Krefelder Seidenindustrie entwarf Mies van der Rohe darüber hinaus zwei Präsentationen auf den Messen Samt & Seide (1927) und Die Seide (1929). Zudem schuf Mies für die Verseidag ein Fabrikgebäude mit Shedhalle (1930/35) und einen angrenzenden Verwaltungstrakt (1937/38), die noch heute in Krefeld existieren.

Latifa Echakhch war in Einzelpräsentationen u.a. im MACBA, Barcelona (2010), in der Kunsthalle Fridericianum, Kassel (2009) und in der Tate Modern, London (2008) zu sehen. Sie nimmt an der Ausstellung ILLUMInations der 54. Biennale von Venedig (2011) teil.


Von Schwelle zu Schwelle
16. Juli bis 25. September 2011