Von den Roaring Twenties zum konservativen Kulturbruch

In einer interdisziplinären Ausstellung wird die Zeit zwischen den mittleren 1920er- und mittleren 1930er-Jahren in Österreich dargestellt – mit Fokus auf Wien: Es geht um jene entscheidenden Jahre, als die Zukunft der jungen Republik auf der Kippe stand, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Aufbruch und Reaktion. Es gab keine nationale Identität, die politischen, sozialen, weltanschaulichen und kulturellen Gegensätze waren schroff und unversöhnlich, die Feindbilder zwischen Schwarz, Rot und Braun starr, die Lebensverhältnisse instabil. Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit führten zur sozialen Deklassierung und Verunsicherung breiter Schichten. Faschistoide und antisemitische Tendenzen bekamen Rückenwind, Gewaltbereitschaft und aggressive Agitation bestimmten das Klima.

Die divergierenden Werthaltungen spiegelten sich auch in der Lebenspraxis der Menschen. Neben den wichtigsten Ereignissen der Zeitgeschichte und zentralen Konfliktfeldern werden grundlegende Tendenzen und Leistungen in Kunst, angewandter Kunst und Populärkultur dargestellt. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Alltagsleben und dem Lifestyle der 1920er- und 1930er-Jahre. Vor allem versucht die Ausstellung, die Tiefendimension des Politischen und die kollektiven Identitäten gegensätzlicher soziokultureller Milieus herauszuarbeiten, mit Blick auf politische Codes und bildkulturelle Stereotypen.

"Um 1930" war der Ausgang der politisch-ideologischen Konflikte noch unentschieden. Noch bestimmten Dissonanz und Pluralismus das politische und kulturelle Leben, noch standen einander divergierende ideologische Leitbilder und Lebensstile gegenüber. Doch bald sollten sich die Fenster, die Ausblicke auf neue Freiheiten und Lebensmodelle öffneten, wieder schließen. Politisch war 1934 die Ausschaltung der Sozialdemokratie und die Etablierung des klerikal-autoritären "Ständestaat"- Regimes ein entscheidender Wendepunkt, im kulturellen und gesellschaftlichen Leben war schon um 1930 ein Paradigmenwechsel zu spüren.

Der Titel "Kampf um die Stadt" bezieht sich auf einander überlagernde Konfliktlinien: Einerseits wurden die Straße und der öffentliche Raum zur politischen Kampf- und Aufmarschzone. Andererseits durchzog ein tiefer ideologischer Riss alle gesellschaftlichen Bereiche, nämlich der Antagonismus zwischen modernen Fortschrittskonzepten und traditionsgebundenem Verwurzelungsmythos: Asphalt gegen Scholle, Bubikopf gegen Gretelfrisur, Großstadtkultur gegen anti-urbane Ressentiments, das "Rote Wien" mit seinem europaweit beachteten sozialistischen Reformmodell gegen das "schwarze" konservative Alpen-Österreich. Linke und Modernisten propagierten den "neuen Menschen" und warnten vor einer drohenden "Verdorfung Wiens". Konträr dazu agitierten Katholisch-Konservative und Völkisch-Nationale gegen "Sittenlosigkeit" und "Verjudung" des Großstadtlebens.

Der urbane Alltag erfuhr in den 1920er-Jahren einen tiefgreifenden Modernisierungsschub und wurde dynamischer, schneller und greller. Das Bild der Stadt veränderte sich: Der Verkehr nahm zu, Leuchtreklamen, Film-Paläste und eine amerikanisch geprägte Populärkultur vermittelten ein neues großstädtisches Lebensgefühl. „Neu“ wurde zum Modewort, die Formen der Zeit änderten sich, neue Produkte hielten Einzug in Konsum und Alltag. Andererseits lebten viele Menschen in bitterer Armut und prekären Verhältnissen. Zumindest abgeschwächt gab es auch in Wien die "Roaring Twenties", mit einem Schuss Frivolität in Mode, Styling und geschlechtlichen Rollenmustern – zumindest bis zum um 1930 spürbaren konservativen Kulturbruch.

Neben zeit-, kultur- und alltagsgeschichtlichem Material bildet die bildende Kunst einen Schwerpunkt der Ausstellung: Rund 250 Kunstwerke korrespondieren einerseits mit den Sachthemen, andererseits wird im zentralen Saal des Künstlerhauses ein repräsentativer Überblick über die Tendenzen der Zwischenkriegszeit geboten – eine "Kunstausstellung in der Ausstellung" mit Hauptwerken und Raritäten wichtiger Exponenten wie Oskar Kokoschka, Max Oppenheimer, Alfons Walde oder Otto Rudolf Schatz. Generell kam es jedoch in den 1920er-Jahren zu einer Stagnation in der österreichischen Kunst, litt doch auch das Kulturleben unter dem Bedeutungs- und Energieverlust der Metropole Wien nach 1918. Andererseits kam es in Gebrauchsgrafik, Architektur, Fotografie, angewandter Kunst oder Tanz zu einer Blüte. Die neuen Massenmedien dieser Zeit spielen in der Ausstellung eine besondere Rolle: Ein wichtiges Gestaltungsmittel sind Film-Großprojektionen, dazu kommen Reportagefotos und die Plakatkunst, die als Spiegel eines völlig neuen Lebensstiles das Bild der Stadt entscheidend geprägt hat.

Idee und Konzept zur Ausstellung stammt vom Direktor des Wien Museums, Wolfgang Kos. Neben Kuratorinnen und Kuratoren des Wien Museums sind zahlreiche externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an dem Projekt beteiligt. Erstmals seit langer Zeit bespielt das Wien Museum wieder beide Geschosse des Künstlerhauses, wie einst bei den Großausstellungen "Traum und Wirklichkeit" oder "Die Türken vor Wien". Auf etwa 2000 Quadratmetern Ausstellungsfläche werden rund 1800 Objekte gezeigt. Die Ausstellungsarchitektur stammt von BWM Architekten, die Grafik von Erwin Bauer. Zur Ausstellung erscheint ein etwa 500 Seiten starker Katalog im Czernin Verlag mit zahlreichen Abbildungen und Beiträgen namhafter Wissenschaftler/innen.

Kampf um die Stadt
Politik, Kunst und Alltag um 1930
19. November 2009 bis 28. März 2010