Von Cranach bis Nitsch

Das Ferdinandeum beherbergt vorübergehend das berühmte Gnadenbild Mariahilf, das sonst den Altar des Innsbrucker Doms schmückt. Parallel dazu ziehen zwei neue Präsentationen in die Grafik-Kabinette ein.

Auf Augenhöhe: Cranachs Kultbild

So nah hat man das Gnadenbild Mariahilf von Lucas Cranach dem Älteren noch nie gesehen: Das Gemälde schmückt eigentlich den Altar im Innsbrucker Dom, doch zum Schutz vor den laufenden Renovierungsarbeiten ist es dank der großzügigen Leihe der Dompfarre St. Jakob nun für einige Monate im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum ausgestellt. Die Präsentation ermöglicht es, das berühmte Werk aus der Nähe und „auf Augenhöhe“ zu betrachten. Das Motiv dürfte den meisten Besucher:innen vertraut sein, denn die nach 1537 geschaffene Arbeit wurde vielfach kopiert. Heute ist wohl kaum ein Marienbild in Tirol, Süddeutschland und darüber hinaus so weit verbreitet, wie dieses. Doch so bekannt das Werk auch sein mag, die malerischen Details werden nur aus nächster Nähe ersichtlich. Die aktuell in den Tiroler Landesmuseen vorgenommene kunsttechnologische Untersuchung (mit Stereomikroskop, Röntgengerät und Infrarotreflektografie), bestätigt die sehr hohe Qualität der technischen Ausführung: Auf einer dünnen Buchenholztafel, liegt eine weiße, perfekt geglättete Grundierung auf die gemalt wurde. Die Malerei ist mit feinst gemahlenen Pigmenten extrem dünn und glatt ausgeführt und erzielt in den roten und blauen Stoffen einen Emaille-Charakter.

Neben kunstgeschichtlichen Aspekten thematisiert die Präsentation im Ferdinandeum ebenso die Verbreitung des Gemäldes. Denn nicht nur wertvolle Nachbildungen, sondern auch religiöse Gegenstände der Volkskunst und Alltagskultur, wie Votivbilder, Anhänger oder Glocken, erhoben es zu dem Kultbild, als das es bis heute verehrt wird.

James Holland. Innsbruck romanticised

Die Grafische Sammlung widmet sich in ihrer Präsentation ebenfalls einem bekannten Bildmotiv: der Maria-Theresien-Straße mit der imposanten Nordkette im Hintergrund. 1858 hielt der britische Landschaftsmaler James Holland (1799–1870) die Szene in einem Aquarell fest. Dass es die dargestellte Perspektive in Wirklichkeit so nicht gibt, zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Tatsächlich verschränkte Holland verschiedene Blickrichtungen in einem Bild. Aktuelle Fotografien, die von Johannes Plattner an den unterschiedlichen Standorten gemacht wurden, machen diese Beobachtung für die Besucher:innen der Schau nachvollziehbar. Wer den Blick auf die Nordkette kennt, wird dennoch feststellen, dass das Kunstwerk der realen Wirkung des Gebirges viel näher kommt, als die vermeintlich exakten fotografischen Wiedergaben. Es braucht offenbar die Teilhabe der Betrachter:innen, um die überwältigende Wirkung des Gebirges aufkommen zu lassen: Die Präsenz des Gebirges muss von den Betrachter:innen subjektiv empfunden und erwidert werden.

Das Aquarell wurde erst kürzlich vom Verein Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum bei Sotheby’s London für die Grafische Sammlung ersteigert. Unter dem Titel „James Holland. Innsbruck romanticised“ wird es nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.

Bacchanalia. Der Rausch der Linie

Die Sammlungspräsentation „Bacchanalia“ widmet sich Druckgrafiken, in denen sich rauschende Szenen in der Welt des griechischen Weingottes Dionysos (römisch Bacchus) abspielen. Im Mittelpunkt steht dabei ein zum Teil zerstörtes Werk: Eine Druckgrafik von Marcantonio Raimondi. Sie zeigt Szenen des Bacchusfestes, welche die Vorderseite eines römischen Sarkophags schmückten. Zwei Stellen wurden aus dem Blatt herausgerissen. Was fehlt? Welche Inhalte sollten zukünftigen Betrachter:innen verwehrt bleiben? Im Vergleich mit vollständig erhaltenen Abzügen sowie dem Sarkophag lüftet die Präsentation das Geheimnis um die beiden Lücken. Aber sind es nicht gerade diese Fehlstellen, die das Werk interessant machen? Immerhin eröffnet jede Leerstelle auch die Möglichkeit, aus der Fantasie der Betrachter:innen heraus gefüllt zu werden. Im Gedenken an den im Frühling 2022 verstorbenen Künstler Hermann Nitsch, den „Dionysos der Malerei“, gibt die Präsentation eine abstrakte Vorstellung von dem, was wir in der Fehlstelle des zerstörten Blattes zu erblicken hoffen.

Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
Auf Augenhöhe: Cranachs Kultbild: bis 27.11.2022
James Holland. Innsbruck romanticised: bis 2.10.2022
Bacchanalia. Der Rausch der Linie: bis 2.10.2022