Vom Umriss zur Aktion

In den vergangenen Jahren hat das Kunsthaus Zug eine Ausstellungsreihe im Bereich klassische Moderne und Gegenwartskunst vor dem Hintergrund der eigenen Sammlung begonnen. 2006 wurde beispielsweise das Projekt "Harmonie und Dissonanz. Gerstl, Schönberg, Kandinsky. Malerei und Musik im Aufbruch" realisiert und 2008 folgte die Ausstellung "Das Sehen sehen. Neoimpressionismus und Moderne. Signac bis Eliasson." Ende 2010 soll nun das ambitiöse Projekt "Linea. Vom Umriss zur Aktion folgen".

Das Projekt Linea bezweckt, ein komplexes Thema für verschiedene Arten von Besuchern als visuelles Erlebnis zugänglich zu machen. Auch ohne Vorwissen kann man sich auf eine Entdeckungsreise durch das weite Reich der Linie begeben. Dabei werden historische und systematische Zusammenhänge zwischen "alter" und "neuer" Kunst veranschaulicht, und das Bewusstsein für grundsätzliche Fragen der Wahrnehmung kann vermittelt werden. Bewusst wird der Bogen von der Antike bis zur Gegenwart weit gespannt; er reicht von Raffael und Dürer über Egon Schiele und Paul Klee bis zu Dieter Roth und Roman Signer. Interdisziplinäre Bezüge der bildenden Kunst zur Architektur, angewandter Kunst, Literatur, Musik und Tanz sollen mit wenigen, sorgsam ausgewählten Exponaten und verschiedenen Begleitveranstaltungen aufgezeigt werden.

Präsentiert werden rund 300 Werke zahlreicher Künstlerinnen und Künstler aus der eigenen Sammlung sowie aus Museen und Privatsammlungen in Europa, den USA und Australien. Dazu gehören: Institutionen wie Fondation Beyeler, Riehen; Kunstmuseum Basel; Kupferstichkabinett Berlin; Kunstmuseum Bern; Centre Georges Pompidou, Paris; Szepmuveszeti Muzeum, Budapest; Museum Kunst Palast, Düsseldorf; Museum der Bildenden Künste, Leipzig; National Gallery of Scotland, Edinburgh; National Gallery of Victoria, Melbourne; Kunsthaus Zürich; Graphische Sammlung ETH Zürich. Es wird ein vom Kunsthaus Zug ediertes Buch im Verlag Hatje Cantz, Stuttgart/Ostfildern erscheinen.

Das Thema Linie ist ebenso einfach wie komplex. Zunächst ist die Linie ein einfaches Grundelement der bildenden Kunst, besonders der Zeichnung, das sich im Laufe der westlichen, europäisch-nordamerikanischen Kunstentwicklung aber als höchst vielfältig und vieldeutig erwiesen hat. Sie ist denn auch weit mehr als ein blosses Formmittel. Seit der Antike wird mit dem Linienbegriff nicht nur der Ursprung der Kunst in verschiedenen Mythen philosophisch zu begründen versucht. Mit der Linie wird seither in der europäischen Geistes- und Naturwissenschaft nicht weniger als ein Weltbild formuliert. Über ihre formale Seite hinaus ist die Linie ein gedankliches Konstrukt, das in der Mathematik, Physik, Optik und Biologie eine ebenso grosse Rolle spielt wie in der Malerei, Architektur, Musik und Literatur.

Für die Wissenschaft und Kultur des Westens ist die Linie prägend geworden. Überhaupt sind unsere Erfahrungsweisen der Wirklichkeit, unser Orientierungssinn, ja unser Denken und Sprechen ohne die Annahmen von Linie und Linearität unvorstellbar, obschon die Linie in der Natur bekanntlich gar nicht existiert und eine Abstraktion darstellt. Man kann sie weder sehen noch berühren, sie manifestiert sich immer nur indirekt als Grenze, Umriss, Bewegungsverlauf oder dergleichen. Dennoch sind Raum und Zeit für uns im Alltag noch immer linear bestimmt. Auch das erzählende Sprechen und unsere Schrift, die linear von einem eindeutigen Anfang zu einem definierten Ende führen, bilden gleichsam eine Linie zwischen zwei Punkten.

Seit der Antike hat man mit der Linie also die Welt zu verstehen, zu ordnen, zu vermessen und handlungsmässig zu erschliessen versucht. Sie repräsentiert ein Konzept der sichtbaren Welt und ist ein Produkt menschlichen Denkens. Es geht folglich um weit mehr als um eine Zeichnungsausstellung. Anhand ausgewählter künstlerischer Positionen und exemplarischer Werke soll dem Wandel der Linienauffassung in der bildenden Kunst von der Antike bis heute erstmals überhaupt in einer wissenschaftlich fundierten Ausstellung nachgegangen werden.

Neben der Zeichnung treten auch andere Medien auf: Buch, Druckgrafik, Malerei, Skulptur, Möbel, Objekt, Installation, Fotografie, Video. Mehrere Künstler werden für einzelne Kunsthausräume ortsbezogene Installationen realisieren, so dass man sich mitunter von Linien gleichsam "umschlungen" sieht. Es ist die akzentuierte Linie, die alle verschiedenartigen Werke verbinden soll. Folgt man dem Ausstellungsparcours, so "erzählt" die Linie gewissermassen ihre eigene Geschichte (die wiederum linear angelegt ist). In immer neuer Gestalt, mit immer wieder anderen Qualitäten und in wechselnden Kontexten tritt sie auf, bleibt aber doch stets als solche klar erkennbar. Für die Besuchenden kann die Ausstellung so über die Summe vieler Einzelwerke hinaus zur Erfahrung einer übergreifenden Linien-Metamorphose werden: Aus dem einfachen, an sich eher spröden Grundelement bildender Kunst entstehen immer neue Welten. Matthias Haldemann

Linea - Vom Umriss zur Aktion
Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart
21. November 2010 bis 27. März 2011