Vom Kino zur Kinetik

Vom 6. bis 30. April 1955 findet in der Galerie Denise René in Paris die legendäre Ausstellung "Le Mouvement" statt. Bewegung als Ausdrucksmittel verbindet alle gezeigten Werke und das die Ausstellung begleitende Faltblatt (Le manifeste jaune) postuliert "Farbe - Licht – Bewegung – Zeit" als Grundlagen zur Weiterentwicklung der kinetischen Plastik. Die Ausstellung im Museum Tinguely hat es sich in einem ersten Ausstellungsteil zur Aufgabe gestellt, diese vielzitierte Schau möglichst umfassend zu rekonstruieren, was mit herausragenden Leihgaben von Venezuela über New York und Paris bis Zürich gelungen ist.

Trotz dem gemeinsamen Thema von "Le Mouvement" waren die (Wand-)Reliefs und Skulpturen in ihrer Art recht unterschiedlich: Objekte, die sich erst durch die Bewegung des Betrachters im Raum entfalteten, waren von Yaacov Agam (geb. 1928), Jesús Rafael Soto (1923–2005) und Victor Vasarely (1906–1997) zu sehen. Wiederum Yaacov Agam, dann Pol Bury (1922–2005), Robert Jacobsen (1912– 1993) und Richard Mortensen (1910–1993) zeigten Werke, die sich in direkter Interaktion mit dem Betrachter verändern lassen. Von Jean Tinguely (1925–1991) waren Werke ausgestellt, die sich mittels integriertem elektrischem Antrieb selbsttätig bewegen. Schliesslich wurde anlässlich der Ausstellung auch ein Daumenkino ("Flip Book") von Robert Breer (geb. 1926) ediert.

Neben diesen jungen künstlerischen Positionen - für einige markierte die Ausstellung den Beginn ihrer internationalen Karriere - waren mit Marcel Duchamps (1887–1968) Rotary Demisphere von 1925 (heute im MoMA, New York) und mit zwei Mobiles von Alexander Calder (1898–1976) Werke vertreten, die einen Rückbezug zu den kinetischen Experimenten der frühen Avantgarde lieferten.

Das mit der Ausstellung der Galerie Denise René verteilte Manifest thematisierte Bewegung als Erweiterung der künstlerischen Sprache in den klassischen Disziplinen und legte ein besonderes Augenmerk auf das Kino: "Cinéma" – die Kinematografie, wörtlich als "Auf-Zeichnung von Bewegung" zu übersetzen, war ein Feld künstlerischer Arbeit, von dem man sich in den 50er-Jahren (wieder) neue Impulse und Möglichkeiten versprach. Zwar wurden in der Ausstellung selbst keine Filme gezeigt, doch als Rahmenprogramm fand in der "Cinémathèque Française" eine Filmvorführung statt, die ausgehend von Klassikern des abstrakten Experimentalfilms der 1920er-Jahre aus Deutschland und Frankreich von Viking Eggeling und Henri Chomette, Filme von Oskar Fischinger, Len Lye und Norman McLaren zeigte, aber auch neue Filme von Breer, Jacobsen und Mortensen, die auch in der Ausstellung vertreten waren.

Das Filmprogramm von 1955 dient als Brücke zum zweiten Teil der Ausstellung, in dem die Frage nach den Quellen der kinetischen Kunst im Vordergrund steht. Dabei wird nicht, wie in den meisten Abhandlungen, zuerst die Entwicklung im skulpturalen Bereich zurückverfolgt, sondern im Medium Film. Der abstrakte Experimentalfilm – auch als "gegenstandslose Augenmusik" bezeichnet – wurde Mitte der 1920er-Jahre als neue Gattung mit grossem Zukunftspotential angesehen, zu vergleichen vielleicht mit dem Anspruch, den Vertreter der kinetischen Kunst um 1955 formulierten. Die Filmvorführung 1925 im UFA-Theater in Berlin zum "Absoluten Film" gilt als eigentlicher Höhepunkt. Schon dort wurde Eggelings Symphonie diagonale gezeigt, daneben auch Werke von Chomette, Fernand Léger/Dudley Murphy, Hans Richter und Walther Ruttmann.

Neben diesen Positionen, die in einer Kino-Situation in die Ausstellung integriert gezeigt werden, werden Filme von Marcel Duchamp, László Moholy-Nagy und Man Ray auf Bildschirmen gezeigt und mit Vorarbeiten und verwandten Arbeiten in anderen Disziplinen zusammengeführt. Damit soll gezeigt werden, wie der kinematografische Aspekt der "Bewegungszeichnung" mittels zeichnerischer Reihung, fotografischer Belichtung (und Beschattung im Falle der Fotogramme), zeitgebundener skulpturaler Dynamik in Licht und Raum, und musikalischer/optischer Konnotation von optischen/musikalischen Ereignissen entwickelt worden ist und auch Inspiration für das kinetische Schaffen der 1950er-Jahre lieferte, das sich oftmals explizit auf Vorbilder aus den 1920er-Jahren bezog.

Zu sehen sind Rotoreliefs von Duchamp, eine Zeichnungsserie von Eggeling zur Symphonie diagonale, Gemälde und Skizzen von Richter zu seinen Rhythmus-Filmen, Fotos und Fotogramme von Man Ray und Moholy-Nagy, sowie Skulpturen von Man Ray, Alexander Rodtschenko und Naum Gabo. Ein weiterer Höhepunkt in der Ausstellung ist eine "suprematistische Komposition" von Kasimir Malewitsch, welche die Wichtigkeit von geometrischer Abstraktion, russischem Konstruktivismus und insbesondere Suprematismus für die formale Entwicklung von abstraktem Film und kinetischer Skulptur zeigt, besonders auch im Hinblick auf Tinguelys "Méta-Malevitch"-Reliefs.

Zur Ausstellung, die auch von der Galerie Denise René grosszügig mit Leihgaben unterstützt worden ist, erscheint ein reich illustrierter Katalog mit einer Einleitung von Roland Wetzel, Texten von Thomas Tode, Roger Bordier, und Interviews von Denise René (mit Serge Lemoine) und Robert Breer (mit Roland Wetzel).

Le Mouvement. Vom Kino zur Kinetik
10. Februar bis 16. Mai 2010