Viva Simone Kermes!

5. September 2012 Rosemarie Schmitt
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Eine Beschneidung, der Religion willen, oder eine Kastration, der Musik willen? Auf einem Foto im Booklet ihrer neuen CD hält Simone Kermes eine Bibel in der Hand. Nun, genau genommen, hat sie die Kompositionen zu dieser CD ja eben diesem Buche zu verdanken. Apostel Paulus war es, der in seinem ersten Brief an die Gemeinde Korinth schrieb: "Wie in allen Gemeinden des Heiligen, so sollen in euren Gemeinden die Frauen schweigen; denn es ist ihnen nicht verstattet Vorträge zu halten."

Er meinte damit vermutlich, daß Frauen nicht predigen durften (jedenfalls nicht in Kirchen, zuhause taten sie es vermutlich seit ihrer Schöpfung). Vieles hat sich seither geändert, doch daß von Klugen Gesprochenes von weniger Begabten soweit gekürzt wird, bis auch für sie Verständliches dabei heraus kommt, das ist auch heute noch so. Paulus Worte wurden so interpretiert, daß Frauen zu schweigen hatten, also auch nicht singen durften. Die fehlenden Frauenstimmen wurden infolgedessen von Knaben ersetzt.

Ein entscheidender Einschnitt bestimmte fortan das Leben der Jungen. Die Höhe des Tones hängt von der Länge und der Spannung der Stimmbänder ab. Je kürzer, desto höher. In der Pubertät verändert sich, unter dem Einfluß von Geschlechtshormonen, die Länge der Stimmbänder bei Knaben, es kommt zur Vergrößerung des Kehlkopfes und damit zur Verlängerung der Stimmbänder. Die Stimme wird tiefer. Durch eine operative Entfernung der Keimdrüsen vor der Geschlechtsreife kann der Prozeß der geschlechtlichen Entwicklung ausgeschaltet werden. Der Stimmbruch wird vermieden, die hohe Knabenstimme bleibt erhalten (aus: "Engel wider Willen" von Hubert Ortkemper). Zwar mit leichter Verzögerung, doch im wesentlichen entwickelt sich der Körper weiter. Brustkorb und Lunge erreichen das Volumen eines erwachsenen Mannes. Das ist, was an der Stimme der Kastraten so faszinierte, die Tonhöhe eines Knaben in Verbindung mit dem Volumen und der Kraft eines Erwachsenen.

Im 17. Und 18. Jahrhundert erhielten die berühmten Kastraten Traumgagen. "Eviva il coltello!" (es lebe das Messerchen!) rief das Publikum, bereits vor dem ersten Ton ekstatisch. Arme italienische Familien ließen ihre Knaben kastrieren, in der Hoffnung, sie würden einst berühmt und reich. Doch nur sehr wenigen von ihnen gelang dieses. Auf der Bühne bejubelt, nach der Aufführung im "richtigen" Leben diskriminiert. Die Vorstellung dieses Lebens nach der Vorstellung ruft wenig Ekstase hervor. Italien war das Land der Kastraten. Nirgendwo wurden so viele Knaben verstümmelt, der Unterhaltung einer ausgewählten Gesellschaft wegen, und nirgendwo möchte man zur heutigen Zeit weniger davon wissen. Reisen Sie nach Italien, suchen Sie nach Spuren, Denkmälern, Museen, Gedenktafeln, Theatern, die den Namen eines der Helden jener Zeit tragen – Ihre Suche wird vergebens sein.

Es waren etwa Leonardo Leo, Giuseppe de Majo, Nicola de Ketchup (nein, das ist natürlich Blödsinn!), Nicola Antonia Porpora, Giovanni Battista Pergolesie oder Johann Adolf Hasse, die Arien komponierten, die ausschließlich für Kastraten bestimmt waren. Und jetzt steh’n wir da, mit allerhand wunderbaren Kompositionen und einem akuten Mangel an Kastraten. Nun, werden Sie vielleicht sagen, heutzutage haben wir hervorragende Countertenöre! Da haben Sie natürlich Recht, das heißt, natürlich sind deren Stimmen nicht, denn Sie singen mit einer speziell ausgebildeten Kopfstimme. Es gibt wunderbare Kompositionen, die sich für Countertenöre eignen, indess diese Kastratenarien gehören nicht dazu. Doch verlieren Sie nun nicht gleich alle Hoffnung, denn wir haben ja SIE! Die Frau, die singt wie ein Engel, in der ein Teufel steckt! Die Frau, die eine natürliche, atemberaubende Begabung hat, diese wundervollen Arien zu singen, als seien sie eigens für sie geschrieben worden. Als ich sie zum ersten Male hörte, war das für mich ein einschneidendes Erlebnis, ganz ohne Operation und ohne Schmerzen.

Alle Arien auf "Dramma" (SONY Classical) wurden ursprünglich für Kastraten komponiert, und stellen allerhöchste Anforderungen an die Interpreten. Nicht alleine eine virtuose Gesangstechnik, sondern ebenso eine hohe dramatische Ausdruckskunst ist notwendig. Und beides ist ganz typisch für Simone Kermes. Wer, wenn nicht sie, sollte diese wundervollen Arien perfekt interpretieren! "Dramma per musica", so nannten die Librettisten die Texte zu den Opern, die in Laufe der Zeit dann schlicht "Dramma" genannt wurden. Bis auf eine, die als eine der schönsten Arien jener Zeit gilt, nämlich Händels "Lascia ch’io pianga", handelt es sich auf dieser Einspielung um längst vergessene Schätze. Acht (!) von elf Arien sind Weltersteinspielungen! Und ich verspreche Ihnen, sie werden sie immer und immer wieder hören wollen. Einzig, was noch eindrucksvoller ist als Simone Kermes zu hören, ist sie auf der Bühne zu erleben. Sie ist der Ausbund von Musik, von Perfektion, Können, Begabung, von Temperament und Verbindlichkeit. Viva Simone!

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt