Visite

Schon der Titel "Visite" zeigt an, dass es sich um einen zeitlich begrenzten Besuch handelt: Die Ausstellung der Sammlung Zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland war im Frühjahr 2007 anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Brüssel zu Gast, bevor sie nun, ein Jahr später in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle zu sehen ist. "Visite" verweist in der sprachlichen Bedeutung zwischen "besuchen" und "besichtigen" auf die naheliegendste Absicht der Ausstellung: Das vermittelte Sehen einer Sammlung, die in Bonn zu Gast ist.

Die Ausstellung der Sammlung Zeitgenössische Kunst des Bundes in Brüssel ist als eine thematische Schau angelegt, die drei wichtigen Themenfeldern in der zeitgenössischen Kunst und damit auch der vielgestaltigen Sammlung des Bundes Rechnung trägt. Sie stellt entlang von rund 60 Positionen in drei Kapiteln – Existenz, Raum, Geschichte – künstlerische Reflexionen über die philosophischen Grundbedingungen des menschlichen Daseins vor. Dabei ergeben sich nicht nur innerhalb der einzelnen thematischen Felder dialogische Strukturen zwischen den einzelnen Werken, sondern es werden gleichzeitig auch elementare Verknüpfung zwischen verschiedenen Techniken und Medien, von Zeichnung und Malerei über die Skulptur zur Fotografie und zum Video, deutlich. Schließlich lassen sich die drei Themenfelder der Ausstellung auch als ein übergeordnetes Thema, nämlich als den "Existenzraum Geschichte" lesen: Durch die Betrachtung der einzelnen Werke in dieser Zusammenstellung lässt sich die in der Kunst dargestellte
existenzielle Bewegung des Menschen nachvollziehen.

Unter Existenz kann die Darstellung des menschlichen Subjekts verstanden werden, das in unterschiedlichen Zusammenhängen, in seinen historischen, sozialen, psychologischen und politischen Beziehungsfeldern künstlerisch erfasst wird. Hier sind solche Arbeiten, die sich explizit mit den konkreten sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen des menschlichen Dasein auseinandersetzen, wie die Zeichnung Joseph Beuys", Martin Kippenbergers ironisch-plakative Auseinandersetzung mit sich selbst, seiner Rolle als Künstler ("Pop it out", 1995) oder Wolfgang Tillmans Portraitserie in der Londoner U-Bahn (2000) mit Werken konfrontiert, die sich indirekt mit der menschlichen Existenz beschäftigen – wie beispielsweise Rebecca Horns "Paradieswitwe" (1975) und "Erika" (1992) oder die Videoinstallation "ohne Titel" von Daniel Pflumm (2000).

Die Darstellung des Raumes als architektonisches und schwerer zu erfassendes zeitliches Gebilde ist eines der Hauptthemen der bildenden Kunst. Raum wird sowohl architektonisch umbauter Ort wie in Wohn- und Gesellschaftsbauten wie auch als geistige Sphäre verstanden; immer ist die psychosoziale Dimension des Raumbegriffs erfahrbar. Mögliche und reale Orte stehen im Mittelpunkt der Skulptur von Thomas Schütte ("Parkhaus", 2003) und den Fotografien von Thomas Struth ("o.T.", 1991/1992). Die psychologische Aufladung konkreter Raumverhältnisse, ihr Projektionspotential unserer Ängste und Wünsche stimuliert Gregor Schneider in seinen Rauminszenierungen ("Der deutsche Beitrag – Venedig, Totes Haus u r", 2001). Michael Wesely lässt durch seine Schlitzkamera den konkreten Ort des "Wrigley’s Building" (1995) zu einem abstrakten Streifenbild werden, das an die Malereien von Barnett Newman erinnert. Heidi Specker arbeitet ebenfalls mit der Verfremdung von Fotografien. Anders als Wesely benutzt sie zur Manipulation Berliner Fassaden den Computer ("Teilchentheorie", 1998).

Die Geschichte ist als Hinterlassenschaft aller Bewegungsformen der Existenz im Raum ist das dritte Thema dieser Ausstellung. Der Geschichtsbegriff ist ebenso wie der Existenz- und der Raumbegriff in der Kunst vielschichtig erfahrbar: Es geht um politische Geschichtsschreibung ebenso wie um das persönliche Erzählen; um das Erfinden von Geschichten und das Interpretieren historischer Fakten. Ein Teil der Arbeiten setzt sich mit deutscher Geschichte, dem Gedanken des "Nationalen" auseinander, ohne auf diesen Aspekt beschränkt zu bleiben. Dazu gehören Arbeiten wie das von Georg Herold aus Dachlatten konstruierte "Deutschland in den Umrissen von 1937" (1985) oder Jörg Immendorffs Malerei "Pass" (1965). Katharina Sieverdings "Deutschland wird deutscher" (1993) ist ein hervorragendes Beispiel für die politisch motivierten Arbeiten der deutschen Fotokünstlerin. Inwiefern sich Geschichte und Erinnerung in architektonischen Konstellationen und räumlichen Sehgewohnheiten manifestiert, untersucht Thomas Demand in seinen Fotografien ("Drei Garagen", 1995).

Alle drei Themen, Existenz – Raum – Geschichte, sind miteinander eng verwoben. Diese Korrespondenzen werden entlang der gewählten Werke deutlich und zeigen gleichzeitig, inwiefern konkrete Ereignisse, historische Fakten, kollektive Sehgewohnheiten und gesellschaftliche Codes in diese künstlerischen Arbeiten Eingang finden, diese jedoch zugleich überschreiten.


Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog in einer deutsch-englischen Ausgabe im DuMont-Verlag Köln erschienen. Mit Textbeiträgen von Beatrice von Bismarck, Eugen Blume, Anette Hüsch, Rita Kersting und Rosa Schmitt-Neubauer. Neben einführenden Essays zur Sammlung und zu den in der Ausstellung skizzierten Kapiteln, bietet der Katalog außerdem kurze Kommentare zu den einzelnen Werken sowie Informationen zur Aufgabe, Struktur und zum Bestand der Bundeskunstsammlung.

Visite
Von Gerhard Richter bis Rebecca Horn
11. April bis 17. August 2008