Viennale 2017: Universal verwendbare US-Genres

Ganz im Sinne des im Juli verstorbenen langjährigen Direktors Hans Hurch haben der interimistische Leiter Franz Schwartz und sein Team die heurige Viennale programmiert. Neben großen Filmen des Jahres wie dem libanesischen Gerichtsdrama "L´insulte" oder dem australischen Western "Sweet Country" fehlen auch ungewöhnliche kleine Produktionen wie David Lowerys "A Ghost Story" oder Léonor Sérrailles "Jeune femme" nicht.

Der zukünftige Direktor – die Stellen-Ausschreibung erfolgt Anfang November – wird der Viennale wohl ein neues Profil verleihen, wird Bewährtes übernehmen, aber auch neue Akzente setzen. Heuer aber trug das Wiener Filmfestival noch ganz die Handschrift von Hans Hurch, wurde vom Team auch als Würdigung seines 20-jährigen Wirkens angelegt.

Bei mehreren der großen Filme des Jahres fiel auf, wie sehr Filmemacher auf allen Kontinenten Muster des amerikanischen Genrekinos übernehmen und damit in neuem Kontext ihre Geschichten erzählen. Das gilt nicht nur für Valeska Grisebach, die ihren dritten Spielfilm programmatisch "Western" titelt und souverän Genre-Elemente in die Gegenwart eines Konflikts zwischen deutschen Bauarbeitern und einheimischer bulgarischer Bevölkerung transponiert, gleichzeitig aber auch wie schon Thomas Arslan in "Gold" Genre und Erzählweise der Berliner Schule verbindet.

Unübersehbar ist auch der Einfluss des US-Kinos – im Speziellen des Gerichtsdramas – auf "L´insulte" des Libanesen Ziad Doueri. Verwundern kann das freilich nicht, arbeitete Doueri doch auch als Kameraassistent bei mehreren Filmen von Quentin Tarantino. Harmlos lässt er seinen in Beirut spielenden Film mit einem kleinen Konflikt zwischen einem fanatischen Christen und einem Palästinenser um ein defektes Abwasserrohr beginnen.

Als sich die Streithähne aber gegenseitig beschimpfen und es statt zur Entschuldigung zu einem körperlichen Angriff kommt, schaukelt sich der Konflikt kontinuierlich hoch. Vor Gericht sieht man sich schließlich wieder, wobei dann nicht nur auch Privates an die Öffentlichkeit gebracht wird, sondern auch das Verhalten der Protagonisten durch ihre traumatischen Erfahrungen bei historischen Verbrechen, die in den vergangenen Jahrzehnten sowohl von Christen und als auch von Palästinensern im Libanon verübt wurden, erklärt wird.

Packendes Kino bietet Doueri, entwickelt die Handlung dicht und mit zahlreichen Wendungen. Auch wenn er es nicht nur beim Musikeinsatz übertreibt, sondern auch wenn er ausgerechnet Vater und Tochter als Anwälte vor Gericht aufeinandertreffen lässt, ist das ein mitreißend für ein Ende der Zeit des Hasses und für Verständigung plädierender Film, den man bei der Vergabe des nächstjährigen Oscars für den besten nicht-englischsprachigen Film schon jetzt zu den absoluten Favoriten rechnen muss.

Warwick Thornton erzählt dagegen in "Sweet Country" im australischen Outback der 1920er Jahre im Prinzip einen amerikanischen Western. Wie Sklaven werden in dieser noch unzivilisierten Gegend die Aborigines von den weißen Herren gehalten. Als die Frau eines Aborigines vergewaltigt und das Ehepaar mit dem Tod bedroht wird, tötet der Mann den weißen Siedler in Notwehr, wird aber deshalb bald von einem Trupp gejagt, dem ein Aborigine als Fährtensucher dient.

Thornton, der zusammen mit Dylan River auch selbst für die Kameraarbeit verantwortlich zeichnet, bietet bildmächtiges Outdoor-Kino mit weiter brauner Halbwüste und hohem blauem Himmel. Knapp gehalten sind die Dialoge, die Erzählweise ist ruhig, aber ungemein konzentriert und dicht, irritiert gleichzeitig immer wieder mit kurzen Vorausblenden.

Geschickt übt Thornton dabei nicht nur am offenen Rassismus Kritik, sondern zeigt beiläufig auch, wie die Aborigines durch Assimilation an die weiße Kultur ihrer Identität und ihrer Wurzeln beraubt werden und sie selbst schleichend das Verhalten der weißen Herren verinnerlichen.

David Lowery, der mit der melancholischen Texas-Ballade "Ain´t them Bodies Saint" auf sich aufmerksam machte und danach mit "Elliot, der Drache" überraschenderweise eine Disneyproduktion drehte, stellt mit "A Ghost Story" das Genre des Geisterfilms gewissermaßen auf den Kopf. Hier werden nicht Bewohner eines Hauses von unheimlichen Mächten bedroht, sondern Lowery erzählt in dem in 4:3-Format gedrehten Film, aus der Perspektive eines Geistes.

Großer Hokuspokus ist dazu nicht nötig, es reicht aus, dass der Tote sich im Krankenhaus erhebt, sich das Leichentuch überzieht und seiner Witwe nach Hause folgt. Ohne Kontakt aufnehmen zu können, sitzt er im Vorstadthaus und während für die Witwe langsam das Leben weitergeht, sie eine neue Bekanntschaft macht, auszieht und eine neue Familie einzieht, bleibt der Geist an das Haus gebunden.

So erzählt Lowery leise und in langen Einstellungen, die teilweise auch die Geduld des Zuschauers strapazieren, von Verlust und Einsamkeit, aber auch von der Vergänglichkeit der Welt und dem Vergehen der Zeit, das im Kontrast zur stets gleichbleibenden Existenz des Geistes steht.

Gegenpol zu diesem langsamen Film bildet Léonor Sérrailles elliptisch erzählter "Jeune femme". Schwer zu ertragen sind hier am Beginn die hysterischen Ausbrüche der Protagonistin, die nach jahrelanger Partnerschaft verlassen wurde. Langsam kommt man dieser von Laetitia Dosch mit großem Einsatz und Leidenschaft gespielten Paula aber doch näher. Auf Schritt und Tritt folgt Sérailles ihr, in jeder Szene ist sie präsent, sodass der Zuschauer hautnah Zeuge wird, wie sich diese junge Frau aus ihrem Tief, ihrer Verzweiflung und Desorientierung doch langsam herauskämpft, ihr Leben wieder halbwegs in den Griff bekommt und Ruhe und Sicherheit findet.