Viennale 2013: Zwischen Hammer und Amboss

Mit seinem fast vierstündigen Interviewfilm "Der Letzte der Ungerechten", den man zweifelsohne zu den großen Filmen dieses Jahres zählen muss, rehabilitiert Claude Lanzmann nicht nur den Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein, der als einziger "Judenältester" den Holocaust überlebte, sondern öffnet auch einen neuen Blick auf Adolf Eichmann.

1985 legte Claude Lanzmann mit dem neuneinhalbstündigen "Shoah" ein epochales Werk über den Holocaust vor. Elf Jahre lang hatte der Franzose daran gearbeitet und im Zuge dieser Arbeit schon 1975 während einer Woche elf Stunden lang in Rom den Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein interviewt.

Ab 1938 arbeitete Murmelstein in Wien für Adolf Eichmann, von September 1944 bis Mai 1945 war er der letzte Vorsitzende des Judenrats des Ghettos Theresienstadt und hat als einziger der von den Nazis abwertend "Judenältesten" genannten Mittelsmänner den Holocaust überlebt. Freiwillig begab sich Murmelstein nach dem Zweiten Weltkrieg in tschechische Haft, wurde aber nach 18 Monaten freigelassen.

Dennoch blieb er umstritten, denn heftig kritisiert wurde die Rolle der Vorsitzenden der Judenräte nicht nur von Hannah Arendt, die in ihnen Kollaborateure mit den Nazis sah, die den Holocaust in seinem ganzen Ausmaß erst ermöglichten. Der jüdische Intellektuelle Gershom Sholem vertrat sogar die Meinung, dass Murmelstein gehängt werden müsse.

In "Shoah" brachte Lanzmann das Interview mit Murmelstein, der 1989 starb, nicht unter, da es den Film aus der Balance gebracht hätte. Jahrzehnte lagerte das Material im Holocaust Memorial Museum in Washington, bis Lanzmann etwa sechs Jahren bei einer Vorstellung in Wien einen Ausschnitt seines Interviews mit Murmelstein sah. Weil er sich dadurch bestohlen fühlte, begann er sein Material zu sichten und selbst einen Interviewfilm zu gestalten.

Vom ersten Bild an nimmt "Der Letzte der Ungerechten" – der Titel bezieht sich auf Murmelsteins an André Schwarz-Barts "Der Letzte der Gerechten" angelehnte Selbsteinschätzung – gefangen. Wenn Lanzmann am Bahnhof von Bohusovice steht, wo die Züge für das Ghetto Theresienstadt ankamen, wird durch vorbeidonnernde Güterzüge sofort die Assoziation an die Deportationen der Nazis geweckt.

In den letzten Jahren gedrehte Ansichten von Wien, Theresienstadt, Nisko und Krakau, vor denen Lanzmann Hintergrundinformationen zum Holocaust liefert und aus Murmelsteins 1961 erschienenem Buch "Theresienstadt. Das Modell-Ghetto von Eichmann" rezitiert, ergänzen das 37 Jahre alte Interview mit Murmelstein, das sich auch durch Format und Farbentsättigung von den aktuellen Aufnahmen abhebt.

Im Gegensatz zu seinem bisherigen Werk setzt der 1925 geborene Dokumentarfilmer auch erstmals Archivmaterial ein. Während er in "Shoah" allein mit Interviews mit Zeitzeugen und aktuellen Bildern von Auschwitz und Treblinka, wo Gras über die Stätten des Grauens wächst, eine Ahnung des Massenmordes evozierte, fügt er nun auch Zeichnungen des Ghettos ein, die durchwegs ermordete Künstler machten, sowie einen Ausschnitt aus dem NS-Propagandafilm "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt".

Im Zentrum steht aber das Interview mit Murmelstein. Wie dieser sich als brillanter Erzähler erweist, so zeigt sich Lanzmann wie gewohnt als unerbittlicher und bohrender Interviewer. Mit einfachen Antworten lässt er sich nicht abspeisen, will Details und Jahreszahlen wissen, fragt mehrfach nach, wieso Murmelstein 1939 einen Aufenthalt in London denn nicht zur Flucht genutzt habe und ob er denn seine Macht genossen habe.

Murmelstein wiederum schildert mit seinem detaillierten Insiderwissen seine Beziehung zu Eichmann von 1938 in Wien, als er für den Nazi-Schergen Auswanderungspläne für die Juden erstellen musste, bis zu seiner Tätigkeit als "Judenältester" in Theresienstadt.

Arendts These von der "Banalität des Bösen" findet er nur zum Lachen, schildert Eichmann als korrupt, der die Zwangsauswanderung der Juden ebenso wie Theresienstadt zu seinem eigenen finanziellen Vorteil nutzte, und legt auch dar, dass Eichmann ganz im Gegensatz zur Erkenntnis des Prozesses gegen ihn 1961 in Jerusalem aktiv in die Reichspogromnacht im November 1938 involviert war. Das sei eben kein banaler Bürokrat gewesen, sondern ein Dämon.

Sich selbst sieht er als Puffer zwischen Hammer und Amboss, der die Schläge der Nazis auf die Juden abzufangen versuchte, selbst aber jeden Schlag abbekam oder als Marionette, die versucht die Fäden zu ziehen. 120.000 Juden hat er so die Ausreise aus Österreich ermöglicht.

Offen gesteht Murmelstein, dass er Theresienstadt als Vorsitzender des Judenrats zu einem Musterghetto ausbauen wollte, erläutert dies aber auch überzeugend. Er wollte damit erreichen, dass die Nazis das Ghetto dem Ausland präsentieren, denn nur so konnte man sicher sein, dass es danach nicht vernichtet wird: Was einmal öffentlich präsentiert wurde, kann nicht einfach aus der Welt geschafft werden.

So revidiert Lanzmann in seinem wohl letzten großen Dokumentarfilm, in dem freilich nur Murmelstein zu Wort kommt und seine Darstellung unwidersprochen stehen bleibt, nicht nur das Bild des umstrittenen Rabbiners, sondern regt in seinem kontroversen Blick auf Eichmann und auf die Theorie Hannah Arendts auch noch einmal an Meinungen zum Holocaust zu prüfen und zu überdenken.

Wird vom FKC Dornbirn am Mittwoch, den 22.1. um 19 Uhr und am Donnerstag, den 23.1. um 19.30 Uhr im Cinema Dornbirn gezeigt (dt.-engl.-franz. O.m.U.)