Viennale 2010: Dokumentarisch-fiktionale Durchdringungen

Wie fließend die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm inzwischen sind, zeigen bei der heurigen Viennale beispielsweise der Amerikaner Matthew Potterfield mit "Putty Hill" und die Argentinier Santiago Loza und Iván Fund mit "Los Labios". Führen diese Experimente kaum zu befriedigenden Ergebnissen, so gelang Marco Bellochio mit seinem teils opernhaft überhöhten Mussolini-Film "Vincere" eine dichte und emotional packende Frauentragödie, die das Politische aus dem Privaten heraus entwickelt.

Der Tod des 24-jährigen Cory an einer Überdosis Heroin ist Ausgangspunkt von Matthew Potterfields zweitem Spielfilm "Putty Hill". Auf einige Ansichten des verwahrlosten Hauses am Rande von Baltimore, in dem Cory gestorben ist, folgen Szenen mit Bruder, Schwester, Onkel sowie Freunden und Bekannten des Verstorbenen. Vom Tag vor der Beerdigung bis zur Feier in einer Bar unmittelbar danach begleitet Potterfield diese Menschen. Der Regisseur bringt sich dabei auch selbst ins Spiel, wenn er aus dem Off Fragen an die Betroffenen stellt.

Dramatische Geschichte stellt sich so keine ein, vielmehr werden kleine Porträts gezeichnet, die ganz von der Echtheit der Laiendarsteller leben. Sie selbst werden in diesen Szenen sichtbar, denn ihre Aussagen stammen nicht aus einem Drehbuch, sondern sind großteils improvisiert und spiegeln ihr eigenes Empfinden und Erleben. Diese Echtheit führt zum Gefühl keine Filmfiguren vor sich zu haben, sondern realen Menschen zuzuhören und verleiht einzelnen Szenen große Dichte. Da diese Momente aber isoliert bleiben, bleibt der in nur 12 Tagen gedrehte Film Stückwerk und fügt sich nicht zu einem homogenen Ganzen.

Wie ein Dokumentarfilm wirkt auch "Los Labios". Die Argentinier Santiago Loza und Iván Fund begleiten darin drei Sozialarbeiterinnen bei ihrer Fahrt von Buenos Aires in ein Provinznest, in dem sie ein halbverfallenes Krankenhaus versuchen irgendwie zur medizinischen Versorgung wieder in Stand zu setzen, die Einwohner befragen und untersuchen. Nah ist die Kamera an den Menschen, überläßt ihnen den Raum und verzichtet auf Dramatisierung, blickt auf die sich zunächst fremden Sozialarbeiterinnen, die sich langsam näher kommen, ebenso wie auf die Dorfbewohner. – Da das Ganze aber offiziell als Inszenierung deklariert wird, auch wenn man das kaum erkennt, bleibt letztlich wenig: Als Dokument katastrophaler Lebensbedingungen kann "Los Labios" aufgrund dieser Inszeniertheit kaum gelten, als Spielfilm funktioniert das Unternehmen aufgrund des Verzichts auf jede genauere Personenzeichnung, dramaturgischen Aufbau und Verdichtung nicht.

Da ist Marco Bellochios "Vincere", in dem sich Archivmaterial und Inszenierung immer wieder durchdringen, schon ein ganz anderes Kaliber. Schon mit der ersten Szene nimmt der Film gefangen: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs will der junge Benito Mussolini vor einer sozialistischen Versammlung Gott herausfordern und seine Nichtexistenz beweisen. Die Allmachtsphantasien, die hier durchdringen, wird er auch auf politischer Ebene verwirklichen wollen, wird sich vom Kommunisten zum Faschisten wandeln und einzig "vincere" oder eben "siegen" wollen - und am Ende wird seine monumentale Büste doch eingestampft werden.

Festgelegt wird mit der atmosphärisch dichten Auftaktszene auch die Perspektive, beobachtet ihn doch aus der Zuschauermenge die junge Ida Dalser. Schon einige Jahre zuvor hat sie Benito bei einer Demonstration vor dem Polizeizugriff bewahrt, inzwischen sind sie ein Paar und sie wird ihren gesamten Besitz verkaufen, um seine politische Karriere zu unterstützen.

Er wird sie zwar heiraten und mit ihr ein Kind haben, doch schon während des Ersten Weltkriegs wird sie erkennen müssen, dass Benito mit einer zweiten Frau verheiratet ist und auch mit dieser einen Sohn hat. Von Ida will Mussolini nun nichts mehr wissen, doch diese will sich diese Abschiebung nicht bieten lassen, kämpft um ihre und des Sohnes Anerkennung als Mussolinis Frau und Kind und wird deshalb bald in eine psychiatrische Anstalt gesteckt sowie von ihrem Sohn getrennt.

Virtuos mischt Bellocchio Found Footage zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und zur italienischen Geschichte in den Film, überhöht die Szenen mit fulminanter Musikmontage opernhaft und setzt auch gekonnt Filmzitate ein, die mit dem Empfinden der Figuren korrespondieren. Zu Mussolinis Lazarettaufenthalt läuft im Hintergrund übergroß ein Christus-Film, in einer Aufführung von Chaplins "The Kid" erkennt Ida ihre Situation wieder.

Mit Fortdauer rückt Mussolini dabei in den Hintergrund, tritt als Filmfigur gar nicht mehr auf, während die von Giovanna Mezzogiorno großartig gespielte Ida den Film dominiert. In gegenläufiger Bewegung dazu gewinnt aber Mussolini als politische und öffentliche Person über die Found Footage Gewicht, ist nicht nur in Dokumentaraufnahmen präsent, sondern wird darin auch übermächtig, herrscht gewissermaßen von der Kinoleinwand aus über die davor winzige Ida, die förmlich von ihm erdrückt wird.

Nie wirkt das akademisch oder verstaubt, sondern atmet nicht zuletzt aufgrund der perfekten Ausstattung und einer konsequenten Farbdramaturgie große Kraft. Hier gibt es mit Ausnahme einer Szene von einer Ausstellung zum Futurismus praktisch keine hellen und leuchtenden Farben, dunkle Blau- und Grautöne dominieren, später das Grau und Weiß der psychiatrischen Anstalten. Dazu kommt die Enge der Räume, der weitgehende Verzicht auf Totalen, in denen sich die Beklemmung Idas spiegelt.

Statt anekdotenhaft Historie abzuhandeln, konzentriert sich Bellochio auf die bruchlos erzählte private Geschichte Idas und entwickelt so eine emotional packende Tragödie einer Frau. Weltgeschichte muss hier nur am Rande hereinspielen, in der privaten Geschichte Ida Dalsers wird das ganze diktatorische und unmenschliche Agieren des Duces erfahrbar.