Viennale 2010: Das Laute und das Leise

Spannend ist bei einem Filmfestival immer auch, wie Gegensätze aufeinander prallen. So kann man bei der heurigen Viennale am gleichen Tag hintereinander Alex de la Iglesias ebenso kraftvolle wie grelle Groteske "Balada triste de trompeta", Sharon Lockharts meditativen "Double Tide" und Aleksei Fedorchenkos melancholischen "Ovsyanki – Silent Souls" sehen.

Für den Körper nicht unbedingt gesund ist der Besuch eines Filmfestivals: Erstens sitzt man vom Vormittag bis Mitternacht in den Kinos, zweitens ernährt man sich dazwischen vielfach mit Fastfood und auch die Werbegeschenke, die bei der Viennale am Eingang zu den Kinosälen aufliegen, werden von Ernährungswissenschaftlern wohl kaum empfohlen: Waren das in den letzten Jahren Maltesers, so sind es heuer Gallerteier. Vorteil ist dabei immerhin, dass man danach kaum süchtig werden, sondern im Gegensatz zu den Maltesers sich nach einigen Packungen Überdruss einstellen dürfte.

Vom Filmprogramm der Viennale kann man das glücklicherweise nicht sagen. Weil dieses Festival sich nicht an bestimmte Auswahlkriterien halten muss, sondern sich von den Festivals der ganzen Welt das Beste zusammen suchen kann, kann man hier zwar kaum Weltpremieren erleben, aber im Gegensatz zu anderen Festivals Höhepunkte am Fließband. Alex de la Iglesias" "Balada triste de trompeta" wird zwar kaum jeder mögen, unbestritten dürfte aber sein, dass dem Spanier hier ein äußerst kraftvoller Film von seltener erzählerischer Wucht gelungen ist.

Eingebettet in die politischen Verhältnisse im francistischen Spanien des Jahres 1973 erzählt de la Iglesia bildgewaltig und mit stets neuen Einfällen und Wendungen von zwei Clowns, die um eine schöne Artistin buhlen. Dem brutalen, seine Zirkusgruppe terrorisierenden und seine Geliebte Natalia prügelnden Sergio steht der schüchterne Javier gegenüber. Die Rache, die ihm sein Vater, der im Bürgerkrieg den spanischen Faschisten zum Opfer fiel, eingeimpft hat, hat Javier scheinbar aufgegeben.

Als Sergio aber Natalia wieder einmal verprügelt, bricht die Wut bei Javier durch und er holt zu blutigen Gegenaktionen aus, die Spiegelung der realen Terroranschlägen gegen das Franco-Regime sein sollen.

De la Iglesia hat keine Angst vor Geschmacklosigkeiten, lässt das Blut spritzen und treibt mit dem Entsetzlichen Scherz, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Mit erzählerischem Furor treibt er die Handlung von der ersten Minute rasant voran, erlaubt sich auch Abzweigungen ins Absurde, wenn sich Javier in die Wälder flüchtet, sich dort von einem Hirsch ernährt und schließlich von einem Wildschwein wieder aus seiner Höhle getrieben wird.

Ein wilder, nie zur Ruhe kommender Mix ist das, Kino, das stets unter Hochdruck steht, statt mit Differenzierungen mit Tempo und grellen Effekten arbeitet. Da spielt der Spanier nebenbei auch mit der Filmgeschichte, wenn er Hitchcocks "Der unsichtbare Dritte" ebenso zitiert wie Carol Reeds "Der dritte Mann" und arbeitet andererseits Archivmaterial ein, um die Verankerung im historischen Kontext sichtbar zu machen.

Über die spanische Gesellschaft zur Zeit Francos und die Schrecken der Diktatur erfährt man dabei aber freilich ungefähr so viel wie in Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" über den Zweiten Weltkrieg. Aber mitreißendes Kino, das - sofern man de la Iglesias pechschwarzen Humor goutiert - 110 Minuten lang bestens unterhält, bietet "Balada triste de trompeta" auf jeden Fall.

Das pure Gegenteil zu diesem wilden und atemlosen Kino, das den Zuschauer ständig überwältigt, ist Sharon Lockharts "Double Tide". Einmal im Morgengrauen und einmal in der Abendstimmung hat die Amerikanerin an der Küste bei South Bristol, Maine die Muschelsammlerin Jen Casad gefilmt. Jeweils 45 Minuten sind die beiden Szenen lang, die Kamera bleibt dabei unbewegt, beobachtet scheinbar in einer Einstellung – in Wirklichkeit mussten die 16mm-Filmrollen mehrmals gewechselt werden – die Sammlerin, wie sie ihren schweren Schlitten ins Bild zieht und auf der Suche nach Muscheln den Küstenstreifen vom Bildvordergrund bis zum Bildhintergrund durchquert.

Im herkömmlichen Sinne passiert fast nichts, doch gerade mit diesem Nichts öffnet "Double Tide" dem Zuschauer Augen und Ohren. Da wird einmal der Raum durchmessen, werden Vorder- und Hintergrund eindrücklich erfahrbar, da ändert sich das Licht, verschwindet eine Baumgruppe mal im Nebel, taucht dann wieder auf oder ein Vogel landet im Hintergrund im Matsch und breitet seine Flügel aus. Und es gibt die Tonspur mit unterschiedlichem Vogelgezwitscher, mit einer Schiffssirene oder dem Laut, der entsteht, wenn die Sammlerin mit ihren Stiefeln Schritte in den Matsch setzt.

Nicht ganz so leise kommt Aleksei Fedorchenkos "Ovsyanki – Silent Souls" daher, aber viel geredet, wird bei dieser Fahrt durch die endlosen Weiten der russischen Landschaft auch nicht. Ein Fotograf soll seinem Chef und Freund bei der Bestattung seiner Frau helfen, die nach der vom Aussterben bedrohten Merja-Kultur vollzogen werden soll. Und so waschen die beiden die Leiche, richten sie nach dem alten Ritus der Merjas her und fahren, nur begleitet von zwei Spatzen in einem Käfig, zu einem heiligen See, an dem sie die Brandbestattung durchführen.

Fast ein Zweipersonenfilm ist das, retrospektiv erzählt vom Freund, der die Ereignisse niederschreibt und mit seinem Off-Kommentar durch den Film leitet. In den ruhigen Bildern und im langsamen Erzählrhythmus, in den mit Fortdauer Rückblenden an die Jugend der Protagonisten einfließen, weitet sich "Ovsyanki" zur melancholischen Reflexion über das Verschwinden von Traditionen, Kulturen und Menschen und feiert die Kraft der Liebe. Ob es die Merja-Kultur – im Internet findet man diese praktisch nur in Zusammenhang mit diesem Film - wirklich gibt, oder ob sie Erfindung des Regisseurs ist, ist dabei völlig unwichtig.