Verzerrungen

Nach Herder (1744-1803) sieht man, was man weiß, das heißt, das Wissen, die Kenntnisse, die erworbenen Werte bestimmen, was man hört und sieht bzw. hören und sehen will, weil alles "Fremde", "Neue" oder "Andere" gar nicht ins Wahrnehmungsfeld gelangt. Eine Vorwegnahme der modernen Perzeptionstheorie und des Medienverständnisses, denken wir nur an McLuhans (1911-1980) Satz "The medium ist the message". Das Unbekannte als das Unvorstellbare kann oder darf nicht bedacht werden, schon der Versuch stellt Verrat dar. Religionsgemeinschaften verfolgten und verfolgen daher unerbittlich Häretiker, Parteien mit entsprechendem Machtanspruch ebenso.

Gegenwärtig demonstrieren die meisten Moslems diese bornierte Intoleranz aus Angstausdruck vor Abweichung und Eigenheit besonders eindrücklich. In der Verbindung mit politischer Ideologie ergibt sich dann, wie zum historischen und aktuellen Beispiel, die perverse Geschichtsleugnung, wie sie von den meisten Türken in Folgschaft ihrer politischen, geistigen Führer vehement und aggressiv geäußert wird in der Leugnung des türkischen Genozids an den Armeniern 1915.

Wahrnehmung wird jedoch nicht nur vom Wissen beeinflusst, sondern auch von der gebildeten Erwartungshaltung als Ausdruck des Selbstverständnisses und des sich davon kontrastierenden Anderem (Fremden) oder Gegnerischen, Oppositionellen. Wenn ich ein Vorurteil gegen eine bestimmte Gruppe pflege, werde ich rationalen, empirischen Befunden nicht zugänglich sein, weil meine Vorurteilshaltung schon in der Vorselektion filtert und nur wahrnimmt, was deren Werte und Haltung ergänzt und stärkt. Es braucht sozusagen nicht mehr die Realität, es reicht das „Bild“, die „Vorstellung“. So können Feindbilder zu bestimmenden Werten werden, die Zuschreibungen von Untaten jeder Art erleichtern, weil sie dem Grundbild der Vorstellung als Vorurteil entsprechen. Für viele Moslems bleiben die Ungläubigen Unverbesserliche. Für einige von ihnen heißt das, je nach Grad der Radikalität, Feind.

Ein anderes Beispiel zeigt eine kleine Minderheit in Deutschland, die der Russland-Deutschen. Viele von ihnen speisen ihr feindliches Bild von Deutschland, obwohl sie dorthin gezogen sind, vor allem aus russischen Medien, die entsprechend des neuen Kalten Krieges ihre Feindpropaganda ausgebaut und verstärkt haben. Es ist nicht nur der Perfidie der Russen und ihrer Medien zuzuschreiben, wenn ein großer Teil der Deutsch-Russen im "Fall Lisa" eisern an die Gültigkeit der Falschmeldung glaubt und ihre Abscheu vor dem Westen, insbesondere Deutschland ausdrückt und gleichzeitig jene, die der Wahrheit zur Wahrnehmung verhelfen wollen bzw. sich gegen die Lügen wehren, sogar mit Morddrohungen verfolgt.

Wenn wir die Vorurteilswelt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump ansehen und anhören, erschrecken wir ob deren Primitivität und daraus resultierender Wirksamkeit bei vielen Amerikanern. Eigentlich müsste gegen ihn wegen Rassismus vorgegangen werden, auch nach den eher weichen US-amerikanischen Werten. Aber das wird tabuisiert. Falls er erfolgreich sein wird, werden die "Verbündeten" und Abhängigen ihm nicht nur die Hände schütteln, sondern auch praktisch kollaborieren. Es kommt schließlich immer noch darauf an, wer was sagt (Quod licet jovi, non licet bovi).

Worin unterscheiden sich ein russischer Außenminister Sergei Lawrow, der zynisch den "Fall Lisa" für sich und sein Land instrumentalisierte, ein Putin, der noch zynischer seine Europapolitik ausrichtet von einem amerikanischen Milliardär Trump, der rassistisch und primitiv-barbarische Sprüche rauslässt, die sein extrem borniertes Weltbild illustrieren und belegen? In nichts. Sie repräsentieren die neue alte Haltung der Vorurteiligen, Feindlichen.

Der grassierende Nationalismus, wie er jetzt in der Europäischen Union fröhliche Urständ feiert, ist direkter Ausdruck von ideologisch bedingter Einseitigkeit, Kurzsichtigkeit, Falschheit. Ob wir nach Großbritannien sehen, ins Baskenland oder nach Katalonien, Belgien oder Frankreich, wir sehen das Ausbreiten intoleranter nationalchauvinistischer Haltungen, die wir lange schon überwunden glaubten. Es scheint, dass die Verzerrung zur Norm wird.