Verwehter Staub

Das CentrePasquArt präsentiert die erste Museumseinzelausstellung der seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebenden chinesischen Künstlerin Luo Mingjun. Von zwei unterschiedlichen Kulturen geprägt, beschäftigen sich ihre Arbeiten hauptsächlich mit der Thematik der Identität. In ihren jüngsten, eigens auf die Ausstellung hin realisierten Werken kommt besonders die Erinnerung an ihr vergangenes aber auch an ihr gegenwärtiges Umfeld zum Ausdruck. Sie markieren den Start einer neuen Schaffensphase der Künstlerin.

"Staub" – der von Luo Mingjun (*1963 von Hunan, lebt in Biel und arbeitet wiederholt auch in China) für ihre erste Einzelausstellung in einem Museum gewählte Titel – ist ein stark von der chinesischen Kultur geprägter Begriff und weist direkt auf die Herkunft der Künstlerin hin. So ist ein Staubkorn, nach der Ideologie des Buddhismus zufolge, Sinnbild für das einzelne Menschenleben auf Erden. Oder nach der kommunistischen Auffassung Maos ist es an uns selbst, jeden Tag den Staub aus dem Hirn zu wischen, da sich dieser sonst nicht von selbst entferne.

Dem Taoismus zufolge erreichen wir dann die höchste Reinheit, wenn wir frei von jeglichem Staub sind. "Poussière Rouge" (roter Staub) bedeutet das alltägliche Leben per se, während Rot wiederum an die politische Propaganda von Luos Heimatstaates denken lässt. Staub ist wie Rauch, verweht beim leisesten Windhauch oder wandert weiter. Natürlich hat Staub auch in der abendländischen Kultur seine Bedeutung: Staub ist es woher wir kommen, Staub ist es wohin wir gehen. Für die Künstlerin ist Staub Symbol für die Vergangenheit, das schmerzliche Überbleibsel einer Erinnerung. Jeder gelebte Zeitpunkt ist im nächsten Moment bereits Vergangenheit.

Als ob nur Staub vom Bleistift auf dem Papier zurückgeblieben wäre, auf dem Luo Mingjun in sorgfältigster Arbeit Strich neben Strich Szenen von Freunden, Familienangehörigen oder ganze Klassenaufnahmen aufgezeichnet hat, widerspiegeln ihre neusten Zeichnungen den Hauch von Erinnerungen. Sie erwecken den Eindruck, als ob es sich um Schwarz-Weiss-Fotografien handelte, die fasst vollständig verblasst sind. Mit jeder Bewegung durchlebte sie das Vergangene aus Neue.

Dieser Ästhetik der Blässe ist es auch, der ihre jüngsten Gemälde verpflichtet sind, in denen sie mit weisser Farbe auf die naturbelassene rohe Leinwand arbeitet. Das subtile Nebeneinander von bemalten und ausgelassenen Flächen verleiht die Spannung des Erlebten und Gesehenen. In eben dieser Blässe und dem mit der Erinnerung verbundenen Schmerz unterscheidet sich auch der künstlerische Ansatz der Künstlerin von vielen zeitgenössischen chinesischen Kunstschaffenden, die sich mit der Thematik der Unschärfe eines Gerhard Richters beschäftigen.

In dem neusten Werkzyklus der Gemälde findet die Künstlerin erstmals zurück zu ihrem ursprünglichen Medium der Malerei. Diese hatte sie nach nur wenigen Jahren in der Schweiz für längere Zeit zurück gestellt. Sie wandte sich zunächst der Tuschemalerei zu. Ihr Weg führte sie weiter über die Abstraktion und mit den "Kleinen Dingen", in denen sie in den letzten Jahren Alltagsgegenstände aufnahm – die in Shanghai entstandene gestickte Stoffarbeit "Aches" (Schmerzen) , ergänzt mit Objekten der Künstlerin, in der Vitrine erinnert daran –, schliesslich wieder zum Gegenständlichen und nun den Figurenbildern zurück.

Thematisch bewegt sich ihre Suche indes stets um die Frage nach der Identität. Mit den neuen Zeichnungen und Gemälden weitet sie diese erstmals aus auf ihre Erinnerungen an ihr Umfeld aus der Vergangenheit und der Gegenwart sowie der damit verbundenen Menschen. Was sich früher in abstrakten Formen, Gegenständen und verwischter Tusche noch versteckt hielt, kommt nun direkt zum Ausdruck. Luo Mingjun setzt sich mit ihrem Lebensweg und ihrem künstlerischen Werdegang sowie der damit verbunden vergangenen Zeit auseinander.

Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist die monumentale Installation im grössten Ausstellungsraum, in dem der Besucher völlig vom roten Staub von Menschen, Landschaften, Städten und Situationen umgeben und gefangen genommen wird. Im Zentrum ein Video der Künstlerin, das zeigt, wie sie auf der anstrengenden Suche nach dem eigenen Standpunkt versucht, ihre zwei Identitäten zu vereinen, indem sie ihren chinesischen mit ihrem schweizerischen Personalausweis zusammennäht. Dolores Denaro


Publikation: Zur Ausstellung erscheint im Verlag für Moderne Kunst Nürnberg eine umfangreiche Publikation mit Abbildungen sämtlicher Exponate und Textbeiträgen von Dolores Denaro, Zou Yuejin und der Künstlerin, Chin./Dt./Franz., Erscheinungsdatum: Juli 2008.

Poussière Rouge - Verwehter Staub
29. Juni bis 31. August 2008