Venedig sehen...

Die Neue Pinakothek ist nicht nur ein Haus der Malerei und der Skulptur des 19. Jahrhunderts, sondern künftig auch der Fotografie: In einer mäzenatischen Initiative wird die Sammlung italienischer Fotografien des Münchner Sammlers Dietmar Siegert erwerben und sie der Neuen Pinakothek als Dauerleihgabe übergeben. Dort verstärkt sie entscheidend einen der großen Schwerpunkte der Sammlung: die romantische Italiensehnsucht, eine der tragenden Säulen der Neuen Pinakothek seit den Tagen Ludwigs I..

Zugleich eröffnet sie eine neue Perspektive für dieses Haus. Die Fotografie tritt als gleichberechtigtes bildkünstlerisches Medium neben Malerei und Skulptur und ermöglicht damit einen umfassenden Blick auf die Epoche des 19. Jahrhunderts. Die rund 9700 Fotografien umfassende Italiensammlung von Dietmar Siegert ist eine der umfangreichsten und bedeutendsten privaten Sammlungen dieser Art. Sie dokumentiert in einzigartiger Weise die Entwicklung der Fotografie in Italien von den Anfängen in den 1840er Jahren bis in die Zeit um 1900. Nicht nur die großen kunst- und kulturhistorischen Zentren wie Venedig, Florenz, Rom und Neapel sind mit einer überwältigenden Vielzahl von Aufnahmen vertreten, sondern auch entlegene Regionen und Orte, von denen es oftmals überhaupt nur sehr wenige Fotografien aus dieser frühen Zeit gibt.

Die Sammlung umfasst die bedeutendsten in Italien tätigen Fotografen in teils umfangreichen Konvoluten: etwa Giacomo Caneva (1813-1865), der zu den interessantesten und facettenreichsten Akteuren in Rom gehört und von dem mehr als einhundert seiner raren, sehr gesuchten frühen Kalotypien vorhanden sind; James Anderson (1813-1877), wie Caneva zunächst Maler, als Fotograf dann zusammen mit Robert MacPherson (1814-1872) stilprägend für die frühe römische Architektur- und Landschaftsfotografie; oder Domenico Bresolin (1813-1900), dessen frühe Venedig-Fotografien zu den schönsten Architekturaufnahmen der Zeit gehören, auch er mit mehr als einhundert Aufnahmen in der Sammlung vertreten. Einen eigenen, umfangreichen Sammlungskomplex bilden die Fotografien von Giorgio Sommer (1834-1914), der, aus Frankfurt am Main stammend, sich in Neapel niedergelassen und von dort aus ein Bildkompendium vor allem des italienischen Südens und Siziliens geschaffen hat.

In der Sammlung Siegert ist das Werk Sommers mit mehr als 2000 Fotografien in einzigartiger Breite dokumentiert. Hinzu kommt eine große Zahl reisender Fotografen aus England, Frankreich und Deutschland, darunter Pioniere der frühen Fotografie wie Calvert Richard Jones (1802-1877), von dessen sehr seltenen, während seiner Italienreise 1845/46 entstandenen Kalotypien sich drei in der Sammlung befinden.

Nach Bildthemen steht die Landschafts- und Architekturfotografie im Vordergrund, sie versorgte die wachsende Zahl der Bildungsreisenden auf ihrer Grand Tour mit Aufnahmen der besuchten Sehenswürdigkeiten. Aber auch das Leben in den Straßen und Gassen findet man in den Fotografien wieder, mitunter inszeniert und Klischees bedienend, aber auch eine soziale Realität spiegelnd, die oftmals im Widerspruch zu der Vorstellung des glückseligen Südens stand. Andere Aufnahmen zeigen historische Ereignisse, darunter einige besonders seltene Aufnahmen von den Schlachtfeldern Giuseppe Garibaldis von Stefano Lecchi (1804-1859/63) als früheste Beispiele der Kriegs- und Reportagefotografie (1849!).

Die Sammlung insgesamt besitzt eine enorme kulturgeschichtliche Bedeutung, nicht nur als Bildkompendium der Landschaften und Städte sowie der Geschichte Italiens, sondern auch für die Entwicklung des fotografischen Italienbildes, das die Wahrnehmung dieses Landes geprägt und auch die Selbstwahrnehmung seiner Bewohner beeinflusst hat.

In der Neuen Pinakothek werden die Fotografien der Sammlung Siegert künftig in wechselnden Präsentationen in den Dialog mit Gemälden der Sammlung treten. Den Anfang macht ab dem 9. Oktober eine Schau unter dem Titel "Venedig sehen…", in der venezianische Veduten des 18. Jahrhunderts aus der Alten Pinakothek mit frühen Venedig-Fotografien gezeigt und damit vergleichende Perspektiven auf die Serenissima aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Medien und Epochen ermöglicht werden. Die gemalten Veduten und die Fotografien sind nicht nur durch gemeinsame Motive wie Canale Grande oder Rialtobrücke miteinander verbunden: Die Camera obscura als technische Vorrichtung, die mittels einer optischen Linse das Bild der Außenwelt auf eine Fläche projiziert, ist sowohl Ahnherrin der Fotografie als auch instrumenteller Ausgangspunkt für die berühmten Stadtansichten Canalettos oder Bellottos.

Während Guardi und Marieschi in ihren Gemälden aber das lebendige Treiben einer pulsierenden Stadt betonen, entsteht in den Aufnahmen der Fotografen Domenico Bresolin, Antonio Perini, Carlo Ponti und Carlo Naya ein anderes Venedigbild: Die einstige Metropole der früheren Adelsrepublik erscheint als eine dem Verfall preisgegebene Kulisse aus historischen Monumenten. Im Fokus auf das ausgewählte Detail, in der Erkundung unterschiedlicher Lichteffekte und der Wahl ungewöhnlicher Blickwinkel wird bei aller dem Medium eigenen Abbildfunktion ein eigener ästhetischer Anspruch erkennbar. Venedig war – das belegen Gemälde und Fotografien – nicht nur ein faszinierendes und unterschiedlich interpretierbares Bildtthema, sondern immer auch Anreiz zur kreativen Erprobung der künstlerischen Möglichkeiten des jeweiligen visuellen Mediums.


Venedig sehen...
Fotografie vor 1900 aus der Sammlung Dietmar Siegert
9. Oktober 2014 bis 2. Februar 2015