Vater der "Pittura metafisica"

75 Jahre nach der Ausstellung von Giorgio de Chirico im Kunsthaus Zürich von 1933 wird dem grossen Künstler erstmals wieder in der Schweiz eine museale Schau gewidmet. Gezeigt wird eine konzentrierte Retrospektive mit rund 60 Gemälden und 20 Zeichnungen aus Schweizer Museen und Privatsammlungen. Dazu kommt eine Auswahl der druckgraphischen Werke aus den zwanziger und dreissiger Jahren, die de Chiricos Nähe zu den Dichtern Guillaume Apollinaire und Jean Cocteau spiegeln.

Manche der in Winterthur gezeigten Werke waren bis heute nur selten öffentlich zu sehen, und so bringt die Ausstellung manche Überraschung. Dazu zählt das seit 1923 nicht mehr gezeigte erste metaphysische Bild, L’énigme d’un après-midi d’automne, das de Chirico 1909 malte, nachdem er vor der Kirche Santa Croce in Florenz die verstörende Erfahrung der Fremdheit der Dinge gemacht hatte. Kein anderer italienischer Künstler hat die Kunst des 20. Jahrhundert derart nachhaltig beeinflusst wie Giorgio de Chirico (1888–1978). Wenn de Chirico während seines langen Lebens die äussere Form seines Werks – Stil und Ikonographie – auch immer von Neuem änderte, so blieb er seiner Auffassung treu, die Realität als ein imaginäres Theater zu malen.

In Deutschland und der Schweiz bildete sein metaphysisches Werk den Bezugspunkt für den Magischen Realismus und die Neue Sachlichkeit. Schliesslich beriefen sich die surrealistischen Maler – Max Ernst, René Magritte, Yves Tanguy – auf de Chirico als ihren Vorläufer. De Chiricos Praxis des Zitats und des Selbstzitats wurde in den letzten Jahrzehnten durch die Vertreter der internationalen Postmoderne in Malerei und Architektur aufgenommen. Das Kunstmuseum Winterthur besitzt das wichtige Selbstbildnis als Maler von 1924, das de Chirico in seinem Kleinen Traktat über die Maltechnik als beispielhaft hervorhob. Es ist der Ausgangspunkt für die Ausstellung und wird durch verschiedene frühe und späte Selbstbildnisse ergänzt, denn Selbstbespiegelung und Selbstdarstellung sind zentrale Themen des Künstlers.

Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf den Gemälden der metaphysischen Periode der zehner Jahre, in denen de Chirico die stille Poesie der leeren Plätze entdeckte. Ihre eigentümlich gesteigerte Perspektive mündet auf die in den Himmel ragenden Türme, Architekturen des Unendlichen. Alltägliche Gegenstände werden in bühnenartigen Räumen miteinander konfrontiert; die überwältigende Klarsicht schlägt sich in der Nüchternheit der Darstellungsweise nieder. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich de Chirico älteren Formen der Malerei zu, der italienischen Renaissance und der Neo-Romantik eines Arnold Böcklin. Diese Periode ist repräsentiert mit Beispielen der grossen allegorischen Gemälde, die als "Ville romane" bekannt sind, der Stilleben und symbolisch aufgeladenen Selbstbildnisse.

Die zweite Pariser Zeit ab 1925, während der de Chirico äusserst erfolgreich war, ist durch zahlreiche Werke präsent, die seine bekanntesten Motive versammeln – Möbel in Landschaften, Gliederpuppen im Gewand von Archäologen, Pferde, Gladiatoren, Trophäen. In den dreissiger Jahren schwankte sein zwischen einem eigenwilligen Naturalismus und neuen Bilderfindungen wie in der Folge der Bagni misteriosi. In diese Zeit fallen auch die ersten Repliken nach Themen, die de Chirico in den frühen metaphysischen Gemälden entwickelt hatte. Die von Nietzsche hergeleitete Konzeption der "ewigen Wiederkehr" begann das Werk zu bestimmen. Für die späte Zeit stehen einige wenige Beispiele seiner "barocken" Malerei, die de Chirico als polemischen Kontrahenten der Moderne erweisen. Neo-metaphysische Werke aus der Zeit um 1970, worin der inzwischen über achtzig Jahre alte Künstler von Neuem und in überraschender Frische Figuren und Themen seiner Vergangenheit aufleben liess und ihr neue poetische Bilderfindungen anfügte, beschliessen die Ausstellung.

Für die Ausstellung verantwortlich zeichnen Dieter Schwarz, Direktor des Kunstmuseums Winterthur, und Gerd Roos, Berlin. Der Kunsthistoriker Gerd Roos zählt zu den führenden Kennern von de Chiricos Werk, was er durch zahlreiche kenntnisreiche Aufsätze und die zusammen mit Paolo Baldacci konzipierte Ausstellung in Padova vom Frühling 2007 bewiesen
hat.


Katalog: Der Katalog enthält Farbabbildungen aller in der Ausstellung gezeigten Werke. Wieland Schmied, der de Chirico 1970 in grossen Ausstellungen in Mailand und Hannover zeigte, schildert seine persönlichen Erinnerungen an den Künstler. Dazu kommen Aufsätze zu einzelnen Werkthemen von Paolo Baldacci, Sandra Gianfreda, Gerd Roos und Dieter Schwarz. Abgerundet wird der Katalog durch Beiträge der Künstler Richard Artschwager und Giulio Paolini, die sowohl mit de Chirico als auch mit dem Kunstmuseum Winterthur verbunden sind. 176 Seiten, 90 Farbabbildungen, Fadenheftung, broschiert. CHF 50.-

Giorgio de Chirico
Werke 1909–1971 aus Schweizer Sammlungen
23. August bis 23. November 2008