Umfassende Marisa Merz Retrospektive in der Schweiz

Marisa Merz (1926-2019), die 2013 anlässlich der 55. Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, war eine der führenden Figuren der italienischen Kunstszene der Nachkriegszeit. Heute zählt sie als einzige Frau zu den Hauptvertreter:innen der Arte Povera. In ihren subtilen und kraftvollen Werken finden sich zahlreiche Bezüge zur europäischen Kunstgeschichte. Sie verwendet eine Vielzahl alltäglicher Materialien und Techniken. Das Kunstmuseum Bern zeigt die grösste Retrospektive in der Schweiz seit 30 Jahren vom 31. Januar bis 1. Juni 2025.

Von Aluminium bis Ton, von Kupfer bis Nylon, von Wachs bis Stoff - das Werk von Marisa Merz ist geprägt von "armen" Materialien. Darin spiegelt sich ihre enge Beziehung zur Gruppe der radikalen Kunstbewegung der Arte Povera um die italienischen Künstler Alighiero Boetti, Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Pino Pascali, Giulio Paolini, Emilio Prini und ihren Ehemann Mario Merz, die sich im postindustriellen und turbulenten Italien der späten 1960er Jahre entwickelte. Marisa Merz teilte mit ihren Kollegen unter anderem das Interesse am Material, an der Beziehung der Skulptur - in ihrem Fall des Körpers und speziell des weiblichen Körpers - zum Raum sowie der Kunst zum Leben. Dabei entwickelte sie eine eigenständige künstlerische Position: Ihr Werk ist geprägt von Stille, Poesie und der Suche nach der Zerbrechlichkeit von Kunst und Leben. Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren entstand so ein dezidiert offenes Werk.

Marisa Merz arbeitete in Serien, schuf ephemere Werke, die sich ständig veränderten. Dabei kehrte sie immer wieder zu denselben Motiven, Materialien und Techniken zurück, um deren Wesen so nahe wie möglich zu kommen. Sie erforschte ihre Themen durch subtile und beständige Variationen von Werk zu Werk, experimentierte mit Maßstäben, Formen, Materialien, Farben und Oberflächeneffekten. Die zahlreichen Gesichter, die die Künstlerin in Wachs, Ton und Gips modellierte, mit Pigmenten, Blattgold oder Kupferdraht überzog und unermüdlich auf allen möglichen Untergründen - von Holzplatten bis zu Papierbögen - zeichnete und malte, besitzen eine ähnliche Dynamik und Anziehungskraft wie die Werke von Künstlern wie Medardo Rosso und Amedeo Modigliani. Wie so oft im Werk von Marisa Merz liegen das Rohe und das Kostbare nahe beieinander.

Merz bewegt sich virtuos zwischen Kunstgeschichte und Alltag. In ihrem Atelier verwandelte sie Raum und Zeit mittels Zeichnung, Malerei, Skulptur und Installation in eine große Collage. Neben der Befragung und Überwindung des konventionellen Materialbegriffs stand die imaginäre Kraft sogenannter "armer" Materialien im Vordergrund. Diese oft alltäglichen Materialien entwickelten als Werkstoffe eine überraschende Poesie und besitzen bis heute eine große assoziative Kraft. Merz lässt sich von der europäischen Malereigeschichte inspirieren, von den byzantinischen Ikonen über die flämische Malerei der Frührenaissance bis hin zu den religiösen Gemälden von Fra Angelico und Antonello da Messina. Ihr Umgang mit verschiedenen Materialien ist differenziert, radikal persönlich und verbindet Hoch- und Populärkultur untrennbar.

Die Ausstellung im Kunstmuseum Bern umfasst rund 80 Werke in fünf raumübergreifenden Kapiteln, darunter Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Installationen. Hinzu kommen Dokumentationen ihrer frühen Aktionen wie die Fotografien von Claudio Abate, der 1970 eine Aktion von Merz am Strand von Fregene bei Rom begleitete, bei der die Künstlerin kleine Arbeiten aus Nylonfäden in den Sand legte, die von den Wellen fortgetragen wurden.

Marisa Merz. In den Raum hören
Eröffnung: Donnerstag, 30. Januar 2025, ab 18:00
31. Januar bis 1. Juni 2025