Überwältigend. Shahar Binyamini beim Bregenzer Frühling

Atemberaubend ist Shahar Binyaminis Stück „New Earth“, wenn durch Bewegung neue Realitäten erschaffen werden. Und wenn nach der Pause dann Ravels Boléro erklingt und sich eine ständig anwachsende hypnotische Welle aus Tanz und Klang auf den noch sandigen Bühnenboden ergießt, kann sich das Publikum nicht mehr auf den Sitzen halten.

Das Thema des internationalen Tanzfestivals Bregenzer Frühling ist 2025 „Universe Unbound“, und es geht um die unendlichen Weiten des künstlerischen Ausdrucks, Grenzen zu überschreiten und um die tiefgründige Erforschung von Freiheit und Raum. Shahar Binyamini kommt mit einer Welturaufführung ins Bregenzer Festspielhaus. „New Earth“ ist eine Verdichtung von seinem sehr erfolgreichen Stück „More Than“. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Erneuerung und anderen Definition des Seins, er sucht in jeder Bewegung unsere angeborene, tiefe Verbindung zur Erde. Bevor Binyamini Choreograf wurde, studierte er Biologie, seine Bühne ist immer auch ein Labor, wo er den Körper und seinen Inhalt erforscht: „Wieviel steckt noch vom Tier in uns, oder sind wir Seelen, die in einer Hülle gefangen wurden? Wie entstehen Gefühle, was verändern sie in unseren Körpern?“

Die Bühne ist leer, eine dünne Schicht rotbrauner Erde am Boden, der Bewegungsraum entsteht durch Licht und Körper in minimalistischen Kostümen, die Nacktheit evozieren. Menschliche Wesen bewegen sich, einzeln, zu zweit, nebeneinander, verdichten sich, isolieren sich, in Bewegungen, Verrenkungen die unmöglich erscheinen, überirdisch. Dann aber umschlingen sie sich im intensiven Duo, in Momenten größter Nähe, nur noch ein Paar in Nacktheit, die fünf anderen haben die Transformation zu farbigen Wesen vollzogen. Dazu ein intensiver Klangteppich, eine fesselnde musikalische Collage, die Einflüsse aus dem Nahen Osten aufgreift und klassische, elektronische Elemente, durchdringende Rhythmen ineinander übergehen lässt. Gebannt will man als Zusehende keinen Augenblick versäumen.

Ein monumentaler Boléro 

Dass Ravels Boléro getanzt wird, ist in der Entstehungsgeschichte angelegt: Die Tänzerin Ida Rubinstein hatte 1927 Maurice Ravel gebeten, für sie ein Musikstück in der Form eines spanischen Balletts zu entwerfen. Ravel erklärt: „Ein einsätziger Tanz, sehr langsam und ständig gleich bleibend, was die Melodie, die Harmonik und den ununterbrochen von einer Rührtrommel markierten Rhythmus betrifft. Das einzige Element der Abwechslung ist das Crescendo des Orchesters.“ Die Ballett-Uraufführung fand am 22. November 1928 in der Pariser Oper statt, und die damals 43-jährige Rubinstein tanzte als einzige Frau in einem Kreis von zwanzig jungen Tänzern. Mit ihren erotischen, lasziven Bewegungen schockierte und faszinierte sie gleichermaßen das Pariser Publikum.

Bolero X von Binyamini wird auf der Tanzbühne zum monumentalen Ereignis. Ein Tänzer löst sich aus der Dunkelheit, scheint zu schweben, nur der Oberkörper zeichnet Formen, ein anderer aus der langsam erkennbaren Menschenmauer. Wie bewusst einem die mit der immergleichen Melodie tönenden Soloinstrumente werden, Menschenskulpturen isolieren sich, ordnen sich wieder ein, es kommt Bewegung in den umgebenden Wall, ein Knicken, ein Nicken, intensiver wird die Musik, die Spannung baut sich auch auf der Bühne auf, formiert sich, Ausbrecher aus dem organischen Kollektiv, solistisch, paarweise, und bleiben doch stets im Verbund mit der Frequenz des alle vereinenden Pulsschlags.  

Die starke musikalische Struktur des Boléro bildet die Basis für Binyaminis Version, in der es um die Erforschung kollektiver Dynamiken und die unendliche Energie, die durch eine hohe Dichte an Tänzerinnen und Tänzern entsteht. Durch Integration von Studierenden der Zürich Dance Academy wird für dieses Stück auf die vorgesehenen fünfzig Personen erweitert. „Mit der Company von Shahar aufzutreten und zu touren, ist eine wunderbare Chance für unsere Studierenden sich weiterzuentwickeln und künstlerisch zu wachsen. Nicht nur das Erlernen seiner kraftvollen Bewegungssprache, sondern auch das Zusammenwirken mit seiner Company ist eine einzigartige Gelegenheit“, sagt Jason Beechey, Head of Dance, Züricher Hochschule der Künste.

Wie soll man dieses nur fünfzehn Minuten dauernde, intensive, atemberaubende Erlebnis beschreiben. Das Publikum springt auf und verliert sich in Begeisterungsstürmen.

Shahar Binyamini – New Earth / Bolero X
House of Dance, Israel; Züricher Hochschule der Künste
Choreografie: Shahar Binyamini
Tänzer:innen: Joseph Kudra, Roni Milatin, Dor Nahum, Rina Pinsky, Or Saadi, Maya Botzer Simhon, Naor Walker
Musik: Collage / Boléro, M. 81 – Berliner Philharmoniker, Pierre Boulez
Licht: Ofer Laufer / Shahar Binyamini
Kostüme: Shahar Binyamini 
Produktion: 2025 / 2023