Tierischer Aufstand

Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Veröffentlichung des Märchens "Die Bremer Stadtmusikanten" widmet die Kunsthalle Bremen gemeinsam mit dem Staatsarchiv Bremen dem Märchen eine umfangreiche Sonderausstellung. Vom 23. März bis 1. September 2019 zeigt die Präsentation die Wege der tierischen Protagonisten von den historischen Vorlagen ins Märchen, vom Buch- in den Bildraum, von der Stadt ins Museum und von Bremen in die Welt. Zwischen historischem Bildmaterial und moderner Alltagskultur beleuchten unter anderem Werke von Jeff Koons, Gerhard Marcks, Maurizio Cattelan, Ayse Erkmen, Glenn Ligon und Hiwa K den künstlerischen Umgang mit den vierbeinigen Protagonisten sowie mit den Themen des Märchens.

Seit der Erstveröffentlichung der "Bremer Stadtmusikanten" im Jahr 1819 in den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm fasziniert die Reise von Esel, Hund, Katze und Hahn nach Bremen Groß und Klein. Das Märchen ist geprägt von der Suche nach einem würdevollen Leben – einem Thema, das bereits damals große Brisanz besaß. Immerhin waren Anfang des 19. Jahrhunderts Altersarmut und Missachtung für Gesinde und untere Bevölkerungsschichten Alltagserfahrungen. Obwohl die vier Märchenfiguren in der Erzählung nie in der Hansestadt Bremen ankommen, sind die Tiere und ihr Sehnsuchtsort zu einer begrifflichen Einheit geworden. In der Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen des Märchens zeigt die Ausstellung, dass dem Zielort und dem Beruf des Stadtmusikanten um 1819 Idealvorstellungen vorausgingen, die im Oberweserraum – der Herkunftsregion des Märchens – mit der alten Hanse- und Hafenstadt Bremen verbunden wurden.

Im Zentrum der Ausstellung steht zudem der Wandel bildlicher Darstellungsformen. Die erste Verbildlichung der Bremer Stadtmusikanten, 1823 von dem englischen Illustrator George Cruikshank gezeichnet, stellt mit Krawall und Gewalt den Überfall ins Zentrum des Märchenstoffs. Seitdem wurden die Tiere in illustrierten Kinderbüchern immer weiter verniedlicht. Prägend in der Bildsprache der Bremer Stadtmusikanten ist die Darstellung als Tierpyramide, die schon bei Cruikshank gezeigt wurde. Mit ihr beginnt der Siegeszug der aufeinander gestellten Tiere durch Märchenbücher, Sammelbilder und Postkartendrucke bis hin zu vielfältigen Adaptionen und Abwandlungen.

Bis heute bietet die Tierpyramide vielfältige Ansatzpunkte für die künstlerische Auseinandersetzung mit den Bremer Stadtmusikanten. Die Ausstellung verdeutlicht dies unter anderem mit den Plastiken aus der Sammlung des Kunstvereins "Love Saves Life" (1995) und "Love Lasts Forever" (1997) von Maurizio Cattelan. Neben Werken von Jeff Koons, Martin Creed und Mark Dion zeigen Cattelans Plastiken, wie im Laufe der Zeit die Pyramidalform zum einprägsamen Signet des Märchens der Brüder Grimm wurde. Die Pyramide als Symbol des Märchens ist mittlerweile derartig verbreitet, dass der Bezug nicht immer vom Künstler oder von der Künstlerin selbst intendiert sein muss, sondern von Betrachtenden automatisch hergestellt wird. Dies verdeutlicht das vor dem Eingang der Kunsthalle Bremen ausgestellte Werk "Pinpointing Progress" des belgischen Künstlers Maarten Vanden Eynde. Seine Skulptur stapelt keine Tiere sondern in Lettland produzierte Fahrzeuge und Apparate, die Eynde wie präparierte Insekten mit einer riesigen Nadel fixiert. Je weiter sich die Pyramide nach oben verjüngt, desto jünger werden auch die Objekte.

Neben der Betrachtung bildsprachlicher Aspekte behandelt die Ausstellung die dem Märchen zugrundeliegenden sozialkritischen Themen wie Armut oder Ausgrenzung und Formen der Reaktion darauf. Gezeigt wird die Auseinandersetzung zeitgenössischer Kunst mit der Erzählung über vier Außenseiter, die aus Gründen von Alter, Armut und Nichtzugehörigkeit ihren Platz in der Gesellschaft verlieren. Arbeiten von Gimhongsok, Hiwa K und Boris Mikhailov verdeutlichen die tagesaktuelle Brisanz des Märchens, in dem Motive wie Wohnungs- und Heimatlosigkeit, Migration, Aufbegehren und Solidarität in den Mittelpunkt gerückt werden. Mit den sozialkritisch aufgeladenen Werken entsteht ein Diskussionsraum der einlädt über und vor allem mit Bevölkerungsgruppen zu sprechen, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden.

Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Vielfalt der Objekte, die heute rund um die Bremer Stadtmusikanten Verbreitung finden. Gezeigt werden die älteste Bremer Stadtmusikanten-Skulptur aus dem Ratskeller von 1899 sowie Vorarbeiten zu Kunstwerken im öffentlichen Raum wie die Gussform der 1953 am Bremer Rathaus aufgestellten Tierpyramiden-Skulptur von Gerhard Marcks. Sie machte die Stadtmusikanten zum inoffiziellen Wahrzeichen der Stadt und ist heute auf zahlreichen Reproduktionen wie Souvenirs und Postkarten abgebildet. Darüber hinaus greift die Präsentation die Reproduktionsvielfalt mit unterschiedlichen Varianten von Kitsch-Objekten auf. Kinderbesteck, Handpuppen und Kerzenhalter sorgen dafür, dass die Bremer Stadtmusikanten Eingang ins kollektive Gedächtnis erhalten und verdeutlichen die gesamte Bandbreite der Märchenrezeption, die über Bremen hinaus globale Verbreitung findet.


Tierischer Aufstand
200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft
23. März bis 1. September 2019