Tankstellenkultur der Wirtschaftswunderjahre

Die Agip-Tankstelle der 1950er Jahre weckt in vielen sehnsüchtige Erinnerung an die ersten Italienurlaube. Als durchaus "schick" galt damals die Tankstelle - man fuhr sie nicht nur zum Auftanken an, sondern auch, um an der Bar einen Espresso zu trinken und dabei modernes Flair zu genießen. Nicht selten war das dazugehörige Ristorante das Ziel des sonntäglichen Ausflugs der Familie im fabrikneuen Cinquecento.

Die Ausstellung "Agip. Tankstelle des Wirtschaftswunders" im Deutschen Architektur Museum präsentiert vom 16. Januar 2010 an zahlreiche historische Fotografien sowie weitere Zeitdokumente, die nicht allein die Architektur, sondern auch die Kultur und das Lebensgefühl einer motorisierten Aufbruchszeit vorstellen.

Dem italienischen Mineralölkonzern Agip kommt das Verdienst zu, den Bedeutungswandel der Tankstelle in Europa eingeleitet zu haben - fort von einem rein funktionell geprägten, unwirtlichen Ort hin zu einem mondänen Treffpunkt, der neben dem Tanken auch Shopping und Gastronomie bietet. Auch sprachlich hat das seine Spuren hinterlassen: hieß die Tankstelle ursprünglich stazione di rifornimento (Tankstelle), so sollte sie in den 1950er Jahren zur stazione di servizio (Servicestelle) nobilitiert werden.

Das Neuartige an dem Konzept, das Agip Anfang der 1950er Jahre vorlegt, ist die Koppelung der Tankstellenarchitektur an die Corporate Identity des Konzerns. Parallel zur Entwicklung des weltweit bekannten Logos - dem sechspfotigen, feuerspeienden Hund - lässt Enrico Mattei, Vorstandvorsitzender des Agip-Mutterkonzerns Eni, einen Prototyp für die standardisierte Tankstelle entwerfen.

Vom kleinen Kiosk für Innenstadtbereiche über die mittelgroße Tankstelle mit Bar bis hin zur Großtankstelle mit Restaurantbereich entlang der großen Verkehrsadern wie der Autostrada del Sole folgen alle Typen denselben Parametern: Die Architektur mit dem dynamisch nach oben geschwungenen, fliegenden Dach zeichnet die Gebäude bereits von weitem klar als Agip-Tankstelle aus. Der hohe Wiedererkennungswert lässt die Tankstelle zu einem markanten architektonischen Markenzeichen werden.

Mit großem Expansionsdrang entstehen im darauffolgenden Jahrzehnt allerorten mehrere Hundert Tankstellen, die als Ausdruck von Modernität und Fortschritt, und damit auch als "Botschafter" des Unternehmens fungieren. Und das mit unübersehbarem Erfolg: Die dynamische Architektur und die schwarz-gelben Werbeplakaten mit dem Agip-Hund haben das Straßenbild Italiens in den Zeiten des Wirtschaftswunders der 1950er und 1960er Jahre nachhaltig verändert.

Die Ausstellung in der Galerie im Erdgeschoss des Hauses beleuchtet nicht nur die architektonischen und bautechnischen Aspekte der Tankstelle mit Planzeichnungen und Skizzen. Die erzählstarken Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Konzernarchiv von Eni, Rom eröffnen die Tür zu einer vergangenen Welt, einem Land voller Hoffnung und Optimismus auf eine bessere Zukunft. Exkurse in das neuartige Servicedenken der Zeit sowie zu dem Initiator des Programms Enrico Mattei (1906-62) runden die Schau ab.

Agip. Tankstelle des Wirtschaftswunders
16. Januar bis 14. März 2010