Styx

20. November 2018 Walter Gasperi
Bildteil

Eine Einhandseglerin stößt im Atlantik auf einen in Seenot geratenen Fischtrawler mit afrikanischen Flüchtlingen. Die Küstenwache sagt Hilfe zu, doch nichts passiert. Soll oder muss sie selbst eingreifen? – Wolfgang Fischer entwickelt aus einem minimalistischen Szenario nicht nur einen ungemein packenden Film, sondern wirft auch beklemmend aktuelle Fragen zur Menschlichkeit angesichts der Flüchtlingskrise auf.

Berberaffen springen auf Gibraltar auf einem verdorrten Baum von einem Ast zum andern, dann klettern sie Hausfassaden hinunter und gehen über Asphaltstraßen. – Isoliert steht diese Szene am Beginn des Films. Stellt sie einfach eine Realität dar oder ist dieses Vordringen des Tieres in menschliche Bereiche eine Metapher für das Animalische, das im Menschen schlummert? Die Szene drängt dem Zuschauer keine Lesart auf, lässt sie aber zu und bleibt gerade in ihrer Offenheit haften.

Abrupt wechselt Wolfgang Fischer den Schauplatz, wenn in der nächsten Szene rücksichtslose Raser mit ihrem illegalen Straßenrennen in Köln einen Unfall verursachen, bei dem ein unbeteiligter Autofahrer schwer verletzt wird. Kontrapunkt zu den Rasern, die nur an ihren Spaß denken, stellt die Rettungsmannschaft dar. Rasch sind nämlich Feuerwehr und Rettung zur Stelle und die 40-jährige Notärztin Rike (Susanne Wolff) kümmert sich mit großem Einsatz um den Verletzten. Man spürt: Die Frau hat Erfahrung, weiß genau was zu tun ist, setzt jeden Griff und jede Handlung gezielt.

Schon in der nächsten Szene sieht man ein Flugzeug in Gibraltar landen und Rike ihre elf Meter lange Segelyacht, die nach einem US-Botaniker aus dem 19. Jahrhundert "Asa Gray" heißt, startklar machen. Allein will sie bis in den Südatlantik zur Insel Ascension segeln, wo Charles Darwin einen Dschungel anlegte. Als Paradies der Artenvielfalt wird diese in ihrem Buch beschrieben, aber ihre Fahrt wird eher zu einem Trip in die Hölle.

Ganz konkret wird sie schließlich in die Unterwelt abtauchen, durch die sich der titelgebende Fluss in der griechischen Mythologie zieht, aber dieser "Styx" kann auch als Metapher dafür gelesen werden, wie weit der Mensch seine Menschlichkeit hinter sich gelassen hat. Diese Offenheit zwischen packendem physischen Kino und philosophischem Gehalt gehört zu den großen Stärken des zweiten Spielfilms des 1970 in Amstetten geborenen Wolfgang Fischer.

Wie Rike als Notärztin sicher und selbstbewusst agiert, so weiß sie auch beim Segeln jederzeit, was zu tun ist. An J. C. Chandors famosen "All Is Lost", in dem Robert Redford als Einhandsegler im Indischen Ozean in Seenot gerät, erinnert nicht nur die Selbstverständlichkeit jedes ihrer Handgriffe, sondern auch die weitgehende Dialoglosigkeit sowie die dokumentarisch-nüchterne Erzählweise. Hautnah ist der Film an der von Susanne Wolff phänomenal gespielten Protagonistin, die sichere dynamische lineare Erzählweise passt perfekt zum souveränen Handeln Rikes. Auf Charakterisierung und Psychologisierung wird verzichtet, es gibt nur das Hier und Jetzt des Segeltörns.

Speziell in einem heftigen Sturm macht Fischer nicht nur die Gefahren erfahrbar, sondern mehr noch die Kompetenz und Sicherheit dieser Frau. Nichts scheint sie aus der Ruhe bringen zu können. Eine Größere Herausforderung stellt aber bald ein in Seenot geratener Fischtrawler mit zahlreichen Flüchtlingen für sie dar. Schreie und an Deck stehende Menschen, die teilweise ins Meer springen, alarmieren sie.

Auch hier agiert sie zunächst professionell. Sie verständigt die Küstenwache, die Hilfe zusagt, sie aber auch nachdrücklich auffordert, auf keinen Fall einzugreifen. Doch im Gegensatz zum Autounfall am Beginn des Films vergehen nun Stunden und Hilfe bleibt aus. Auch ein Containerschiff verweigert Hilfe, denn die Weisung der Firmenführung sei, in solchen Fällen auf keinen Fall einzugreifen. Vor einem Dilemma steht Rike, denn unmöglich kann sie alle Flüchtlinge aufnehmen, würde damit sich selbst gefährden, denn einerseits ist ihr Boot zu kleinen, andererseits ihr Nahrungs- und Trinkwasservorrat zu gering.

Den etwa 14-jährigen Kingsley (Gedion Odour Wekesa), der ins Meer gesprungen ist, holt sie aber an Bord ihrer Yacht. Eindrücklich wird die Not der Flüchtlinge erfahrbar, wenn dieser Teenager kaum ansprechbar ist, schwer dehydriert ist, und in die Kabine getragen werden muss. Als er sich etwas erholt hat, fordert er die Notärztin auf, auch den anderen zu helfen, doch sie weigert sich.

Erfahren lässt er sie bald die Situation der anderen, indem er sie über Bord wirft, dann aber wieder aufnimmt, und erinnert sie an die Toten, indem er die Namen der Flüchtlinge aufzählt und zu jedem Namen eine Mineralwasserflasche ins Meer wirft.

Großteils auf See wurde dieses von Kameramann Benedict Neuenfels brillant gefilmte, bestechend minimalistische und entschlackte Drama gedreht. Auf ein Minimum reduziert ist der Dialog, praktisch mit zwei Schauspielern und der Yacht als einzigem Schauplatz kommt Fischer aus. Auch auf Filmmusik wird abgesehen von ein paar harten elektronischen Klängen am Beginn und zum Nachspann verzichtet, das Geräusch von Wind und Wellen bestimmt die Tonspur. Ganz still wird "Styx" immer wieder, wenn Luftaufnahmen die Isolation des Bootes auf dem weiten Atlantik vermitteln, die Ausgesetztheit Rikes erfahrbar machen.

Gerade in der Reduktion auf die kleine Geschichte entwickelt der kompakt erzählte Film dabei seine Kraft. Am Schicksal von zwei Personen und auf engstem Raum macht er das Dilemma der Flüchtlingskrise packend und nachhaltig wirkend erfahrbar.

Dass dies gelingt liegt auch am jungen Kenianer Gedion Odour Wekesa, der in seiner ersten Filmrolle eindrücklich in seinen Blicken die Verzweiflung der Flüchtlinge ebenso wie die Wut auf die Europäer, die sie einfach in den Meeren sterben lassen, vermittelt.

Möchte die Ärztin auch noch so menschlich agieren, die Einzelperson ist hier machtlos, wenn die Behörden nicht selbst aktiv werden, sondern rücksichtslos Menschen umkommen lassen. Dass dies kein Einzelfall ist, machen – wäre es nicht sowieso bekannt - am Ende Funkmeldungen von Flüchtlingsbooten bewusst, die mit 300 oder auch 400 Passagieren in Seenot geraten sind.

Gleichzeitig stehen Rike und ihre Yacht natürlich auch für Deutschland und Europa und der havarierte Fischtrawler für die Flüchtlinge insgesamt. Auch hier steht dem Ruf "Das Boot ist voll" das Gebot der Menschlichkeit gegenüber – aber auch die Unmöglichkeit alle aufzunehmen. – Eine einfache Lösung gibt es weder im Film noch in der Realität, Rike wird die Erfahrung jedenfalls nicht unbeschadet überstehen.

TaSKino Feldkirch im Kino Rio: Fr 23.11. bis Do 29.11.
LeinwandLounge in der Remise Bludenz: Mi 19.12., 19 Uhr
FKC Dornbirn im Cinema Dornbirn: Mi 6.2. 2019, 18 Uhr + Do 7.2. 2019, 19.30 Uhr

Trailer zu "Styx"