Veronique Homann begibt sich in ihrem neu erschienenen Prosaband "Akut“ auf die Suche nach einem Akzentzeichen: Dem Akut des französischen Namens "Véronique“, der ihr verloren ging. Mit der Wahl dieses Themas widmet sie sich ihrer selbst auferlegten Bestimmung, Lücken nicht nur aufzufinden, sondern sie auch zu füllen. Homann arbeitet als Schriftstellerin, Musikjournalistin und Künstlerin und betreibt den Kleinverlag "Plackscheißerei“. Nach Jahren in Berlin lebt sie seit 2023 wieder in Bregenz und war bereit für ein kleines Gespräch über große Themen mit Kultur Online. Das Interview führte Amrei Wittwer.
Kultur-Online: An wen richtet sich Dein neustes Werk, wer soll "Akut“ lesen und wie oft?
Veronique Homann: Ich schreibe, um aus mir heraus zu sprechen, nicht um gezielt jemanden anzusprechen. Zum Lesen eingeladen ist, wer sich dafür interessiert. "Akut“ wird trockener Humor und guter Lesefluss nachgesagt. Literatur sollte, wie alle Werke der Kunst, mehr als einmal konsumiert werden.
Kultur-Online: Warum kann "Akut“ sowohl von rechts, als auch von links gelesen werden, auf deutsch und auf französisch?
Veronique Homann: "Akut“ ist in Frankreich, im Castel Coucou in Sarreguemines im Rahmen meines Rohan-Stipendiums entstanden. Ich wollte die französische Fassung der deutschen nicht bloß anhängen, oder umgekehrt. Ich wollte, dass beide Arbeiten eine eigenständige Publikation darstellen. Wie bringt man also zwei Bücher in einem unter? Indem die Möglichkeiten, die das Buch als Objekt besitzt, genutzt werden. Beide Buchteile sind im Aufbau identisch und laufen in der Mitte anhand einer Illustration zusammen, die als verbindendes, überleitendes Element fungiert.
Kultur-Online: Wie wählt man seine Übersetzerin?
Veronique Homann: Everest Girard war mein dritter Anlauf: Mit ihrer Übersetzung hatte ich beim Lesen das Gefühl, meinen eigenen Text wiederzuerkennen, sie hat sich dem Text gestellt. Ich kenne Everest aus Rostock, 2022 haben wir beide an der "Hauslese" im Literaturhaus Rostock teilgenommen.
Kultur-Online: Und wie kommt man zu einem Verlag?
Veronique Homann: "Les Éditions du Castel "ist der hauseigene Verlag des Castel Coucou, wo ich meine Residenz verbracht habe. Meine drei Publikationen sind in drei verschiedenen Verlagen erschienen, andere Arbeiten habe ich im Eigenverlag publiziert. Ich habe keine Ahnung, wie man einen Stammverlag findet! Ich weiß nur, wonach man in puncto Verlag suchen sollte: Keine Einschränkung der Kunstfreiheit und der eigenen Vision.
Kultur-Online: "Akut“ befriedet die Leser:in. Man möchte jeden Absatz mehrfach lesen. Woran erkennst Du, dass der Satz stimmig ist
Veronique Homann: Ich habe schon öfter gehört, dass die Lesenden den Band nicht mehr aus der Hand hätten legen wollen. Ob ein Satz stimmt, sagt mir mein Eindruck: Nichts lässt sich mehr streichen, nichts ist überflüssig, der Satz sitzt und fügt sich ein. Je karger, desto besser. Das Ausmalende ist mir ein Graus.
Kultur-Online: Wie arbeitet eine selbsternannte "Lückologin“
Veronique Homann: Im Grunde geht es um die Unterscheidung von Leerstellen und Lücken, um die Wahrnehmung des Fehlenden. Die Lückologie beschränkt sich jedoch nicht auf die Dichtung.
Kultur-Online: Wessen Lücken sollen gefüllt werden, die Deinen oder die der Leser:in?
Veronique Homann: Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass "meine“ Lücken auch die der anderen sind.
Kultur-Online: Bahnbrechende Entdeckungen wie Penicillin, molekulare Chiralität und Röntgenstrahlen geschahen durch „Seredipity“ und widerlegen, dass Erkenntnis nur geplant und rational entstehen kann. Warum spielt in Deiner Arbeit das Prinzip der Serendipität eine Rolle?
Veronique Homann: Serendipität ist der glückliche Zufall, der nur den vorbereiteten Verstand begünstigt. Sie benennt etwas, das mir in meinem Leben mehrmals passiert ist.
Kultur-Online: "Akut“ befriedigt die Leser:in. Der Eindruck entsteht, der Text schrieb sich wie von selbst. Woher kommt dieser Band?
Veronique Homann: Danke! Leider hat sich der Text nicht von selbst geschrieben, dafür aber die Handlung. Ich empfinde das als großes Glück. Ich hätte sonst gar nicht gewusst, wie ich das Projekt in Sarreguemines konkret umsetzen hätte sollen.
Kultur-Online: Der Autor Gene Fowler behauptet „Writing is easy: all you do is sit staring at a blank sheet of paper until the drops of blood form on your forehead” Wie, wo und wann schreibst Du?
Veronique Homann: Zuerst schreibe ich im Kopf, ich schleppe eine Idee mit mir herum, forme und bearbeite sie, bis sie einen gewissen Punkt erreicht hat, an dem ich mich ans Schreiben mache: Am Küchentisch, und zwar so lange, bis mein Text fertig ist. Es ist ein Abarbeiten von Ideen und ein Schreiben in Schüben.
Kultur-Online: Welche ist die legitimste der poetischen Stimmungen?
Veronique Homann: Für mich sind das Trost und Widerstand.
Kultur-Online: Du bist in Vorarlberg, in Lochau aufgewachsen, bist Du österreichische Dichterin?
Veronique Homann: Nachdem mir die rechte Hand von Herrn Wallner (Landeshauptmann Markus Wallner. Anm. d. Red.) am Telefon gesagt hat: "Sie sind keine Österreicherin", lege ich großen Wert auf mein Nicht-Österreichtum. Wenn ich keine österreichische Staatsbürgerin bin, bin ich auch keine österreichische Künstlerin. Ich habe von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft, trotz österreichischem Vater. Das ist nie ein größeres Problem gewesen, bis ich weg- und 2023 wieder zurückgezogen bin. Seit ich wieder in Österreich wohne, gelte ich hier als EU-Ausländerin. Das hat einige Konsequenzen, beispielsweise muss ich in drei Jahren einen "Antrag auf Bescheinigung des Daueraufenthalts" im eigenen Geburtsland, in meiner Heimat stellen. Vom BMKÖS (Bundesministerium für Kunst, Österreich. Anm. d. Red.) bin ich von 2023-26 ausgeschlossen für Langzeitstipendien, weil ich noch keinen dreijährigen Wohnsitz hier habe.
Kultur-Online: Wer Deine Lyrik liest, wird wohl selten befriedigt, es bleibt ein Sehnen zurück. Interessierst Du Dich auch für das Aufreissen von Lücken?
Veronique Homann: Ich möchte Lücken aufzeigen, nicht aufreißen, aber in meinem Bestreben lasse ich gewisse Dinge bewusst und gerne ungenannt.
Kultur-Online: Zeigt das Cover Foto von Sid Wischi Waschi leere Buchseiten?
Veronique Homann: Kennst du den Berliner Photoautomaten? Das Cover zeigt einen Fotostreifen im Querformat, entstanden im November 2020, Warschauer Straße, bei Windböen. Auf dem Fotostreifen zu sehen: Die Kraft der Böen, die den Vorhang des Photoautomaten in die Kabine treiben, in vier Einzelfotografien abgebildet. Ich habe nichts getan, außer Münzen in den Automaten zu werfen.
Kultur-Online: "Ave Paria“ ziert ein „Ghost Heart“, die extrazelluläre Matrix vom Herz eines Schweins, das mit menschlichen Stammzellen befüllt werden soll, um in naher Zukunft herzkranken Menschen transplantiert zu werden. Warum wählst Du Dieses Bild als Titel für Deinen Gedichtband?
Veronique Homann: Einerseits aus lückologischen, andererseits aus ästhetischen Gründen.
Kultur-Online: Deine Lyrik stellt Fragen. Warum betitelt Talion, die Vergeltung, den Gedichtband einer jungen Frau mit knapp dreißig Jahren?
Veronique Homann: Das Wort "Talion“ hat für mich etwas Wogendes. Das Streben nach Gleichgewicht, nach Ausgleich, ein Auf und Ab, ein Hin und Her, eine Art Schleifprozess steckt dahinter. Ich sehe darin Parallelen zur Art und Weise, wie ich arbeite, um mein angestrebtes Ergebnis zu erreichen.
Kultur-Online: Warum betitelt Asebia, die Gottlosigkeit den zweiten Teil des Gedichtbandes?
Veronique Homann: Das ist ein Geheimnis.
Kultur-Online: Warum ist dieser Teil dem Sänger und Lyriker der schwedischen Noise Rock Band "Brainbombs" Peter Råberg gewidmet?
Veronique Homann: Peter Råberg ist Initiator des „Writer's Corner“, in dessen Rahmen ich die Gedichte geschrieben habe, die den zweiten Teil von „Sid Wischi Waschi“ begründen. Teil 2 von „Ave Paria“ ist ebenfalls Råberg gewidmet.
Kultur-Online: "Ave Paria“ stellt Deine Gedichte drei Illustrationen von Tine Fetz gegenüber. Was kann die Zeichnung als Kunstform zu Lyrik beitragen?
Veronique Homann: 2020 hat Tine zum ersten Mal ein Gedicht von mir illustriert. Es war ein abstraktes Gedicht, dessen Visualisierung mich interessierte, sodass ich Tine um eine Illustration bat. Ihre Illustration hat mich nicht nur berührt, sondern auch fasziniert. Tine hatte ein Gedicht, das nur wenig Greifbares bietet, greifbar macht. Tine Fetz scheint eine Interpretation immer mühelos zu gelingen! Ich bin ihr klarer Fan. Zuletzt hat sie für den Augustin meine Kurzgeschichte „Die Falle“ illustriert, erschienen im März 2024.
Kultur-Online: Kostet eine Publikation Kraft oder gibt sie Kraft?
Veronique Homann: Schöne Frage! Ich finde, sie sollte immer gestellt werden, die Antworten darauf würden mich sehr interessieren. In meinem Fall kostet eine Publikation Kraft und Nerven – ohne Ende. Meine Arbeit wird gerne von mehr Hindernissen begleitet, als nötig. Habe ich die Publikation "geschafft“, beginnt dann die Arbeit mit der Arbeit.
Kultur-Online: Der Evolutionspsychologe Geoffrey Miller vertritt die Theorie, dass kulturelle Artefakte – wie Literatur - entstehen, um potenzielle Sexualpartner zu beeindrucken. Was hältst Du von dieser These?
Veronique Homann: Ich denke, es gibt solche und Strolche.
Kultur-Online: Woher kommt Deine kreative Energie?
Veronique Homann: Mittlerweile aus reiner Sturheit.
Kultur-Online: Muss eine Dichterin leiden?
Veronique Homann: Kunstschaffende leiden als solche per se.
Kultur-Online: Was hilft der Dichterin bei der Arbeit?
Veronique Homann: Stipendien.
https://www.literaturport.de/lexikon/veronique-homann/
https://www.instagram.com/homannin/
Publikationen:
"Akut“ 2025, Les Éditions Du Castel
Erhältlich über: https://www.castelcoucou.fr/aigu/
"Ave Paria“ 2024 Edition Tagediebin
Erhältlich über: https://www.tagediebin.at/produkt/veronique-homann-ave-paria/
"Sid Wischi Waschi“ 2021, Parasitenpresse
Erhältlich über: https://parasitenpresse.wordpress.com/2021/02/19/veronique-homann-sid-wischi-waschi/