Spiegelbild der Zeitstimmung: Der expressionistische Film

1. März 2010 Walter Gasperi
Bildteil

Beeinflusst vom gesellschaftlichen Umbruch, den das Ende des Ersten Weltkriegs brachte, prägte der Expressionismus um 1920 den deutschen Film. Berühmtestes Beispiel dafür ist Robert Wienes und Carl Mayers "Das Cabinet des Dr. Caligari".

Edvard Munch hatte sein expressionistisches Meisterwerk "Der Schrei" schon 1895 gemalt. Im Kino fand man solche Bilder dann aber vor allem im deutschen Film der frühen 20er Jahre. Die Verunsicherung durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs, die Arbeitslosigkeit und Inflation sowie durch die politischen Unruhen und Attentate kam in diesen Filmen zum Ausdruck, das Chaos der Welt – respektive Deutschlands – spiegelte sich in gespenstischen Geschichten, die Autoritäten und Militarismus in Frage stellten.

Die Wurzeln finden sich aber schon in dem von Stellan Rye 1913 gedrehten "Der Student von Prag". In der Geschichte um einen Studenten, der sein Spiegelbild einem Zauberer verkauft, das einen Mord begeht, den man dem Studenten zur Last legt, finden sich Motive, die unübersehbar auf "Das Cabinet des Dr. Caligari" vorausweisen. In beiden Filmen geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, um Wirklichkeit und Traum und um einen Menschen, der von unsichtbaren Mächten gelenkt wird.

Fortgesetzt wurde diese Richtung mit der ersten Fassung von "Der Golem" (1915), in dem Bauarbeiter ein mittelalterliches Lehmwesen ausgraben, das mit einer Zauberformel zum Leben erweckt wird, und mit der "Homunculus"-Serie (1916), in dem sich ein Kunstwesen zum Diktator macht und das Volk terrorisiert. Expressionistische Dekorationen wurden dabei ergänzt durch bizarr kostümierte und unnatürlich-ekstatisch agierende Darsteller.

Seine volle Ausformung und den Höhepunkt erreichte der expressionistische Film dann aber 1920 mit "Das Cabinet des Dr. Caligari". In diesem Werk von Robert Wiene und dem Drehbuchautor Carl Mayer, von dem der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer in seinem legendären Buch "Von Caligari zu Hitler" eine direkte Linie zu Hitler zieht, kam die Stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit am stärksten zum Ausdruck. Nicht realistisch sind die Bauten von Hermann Warm, sondern gekippt, verschachtelt und teils nur gemalt. Nie rund, sondern eckig und zackig, immer bedrohlich, nie beruhigend.

Was die Kulissen vorbereiten, wird auf der Handlungsebene weiter getrieben. Erzählt wird nämlich vom Medium Cesare, das in Hypnose auf Auftrag seines Herrn, des Dr. Caligari, mordet. Doch dies ist nur die ursprüngliche Drehbuchversion, die schließlich durch eine Rahmenhandlung erweitert wurde. Nun erweist sich die Geschichte von Dr. Caligari und Cesare nämlich als Hirngespinst eines Insassen einer psychiatrischen Klinik, wodurch der Film einiges an Sprengkraft verliert.

Als die weiteren Höhepunkte des expressionistischen Films gelten Paul Wegeners "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920) und Friedrich Wilhelm Murnaus "Nosferatu" (1922). Gemeinsam ist allen drei Filmen, dass sie im deutschen Mittelalter – oder zumindest in der frühen Neuzeit – spielen und vor allem mit Kulissen und Kameraperspektiven eine Atmosphäre der Bedrohung erzeugen. Während Wegener vom Prager Rabbi Löw erzählt, der einen künstlichen Menschen erschafft, stellt Murnaus "Nosferatu" eine nicht autorisierte Verfilmung von Bram Stokers "Dracula" dar. Der Vampir bringt dabei von den Karpaten die Pest nach Bremen und nur das Opfer eines reinen Mädchens könnte die Stadt retten.

So führt der expressionistische Film immer in ausweglose, vorindustrielle Zeiten, meinte in seiner fatalistischen Stimmung aber gleichzeitig immer die Gegenwart. Mehrfach wurde versucht "Caligari" zu kopieren, doch weder Robert Wienes "Genuine" (1920) und "Raskolnikoff" noch Karl Heinz Martins "Von morgen bis Mitternacht" (1920) oder – ein Spätwerk dieses Stils - Paul Lenis "Wachsfigurenkabinett" (1924) erreichten das Vorbild.

Während aber in Deutschland diese Stilrichtung schon 1922 mit Fritz Langs "Dr Mabuse, der Spieler" überwunden wurde, entstanden in Österreich mit Robert Wienes Horrorfilm "Orlacs Hände", der von einem Pianisten erzählt, dem nach einem Unglück die Hände eines hingerichteten Mörders angenäht werden, und Hugo Bettauers "Stadt ohne Juden", der die politischen Verhältnisse und den Antisemitismus in der Alpenrepublik verarbeitete, noch 1924 zwei Filme expressionistische Filme.

So kurz die Blütezeit dieser Stilrichtung auch war - die Filmgeschichte hat sie doch entscheidend beeinflusst. Ob es je die Schattenspiele und die Arbeit mit Hell-Dunkel, die den amerikanischen Gangster- und Horrorfilm der 30er Jahre, vor allem aber den Film noir der 40er Jahre prägten, ohne diese Vorbilder gegeben hätte, ist fraglich.