Als Beitrag zur neuen "B3 Biennale des bewegten Bildes" in Frankfurt/Rhein-Main präsentiert der Frankfurter Kunstverein die Gruppenausstellung "Per Speculum Me Video". Sie versammelt Arbeiten von neun Künstlerinnen und Künstlern, die der Frage nach der Konstruktion des Selbst in der gegenwärtigen Videokunst und Fotografie nachgehen. Wie ein in Vergessenheit geratener Zauberspruch beschwört der lateinische Titel die Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan über die Koppelung der Selbstwahrnehmung und Ich-Entwicklung an das Erkennen des eigenen Spiegelbildes.
Digitale Porträts und Selbstporträts sind heute allgegenwärtig – per Handy oder im Skypegespräch von uns selbst oder anderen eher beiläufig produziert und versendet –, tauchen sie oft unverhofft in den sozialen Netzwerken wieder auf. Aber was bedeutet das eigene Abbild noch, wenn es ständig hergestellt wird und jederzeit zur Verfügung steht? Welchen Status hat es und welche Identifizierungen können seine Betrachter noch wagen, wenn jedes Bild und jedes Selbstbild einerseits stets verfügbar ist und andererseits die eigene technische Relativierung und Bezweifelung immer schon in sich trägt?
In der Videokunst ist dies heute zu einem virulenten Thema geworden. Zwar spielten in ihrer bereits 50-jährigen Geschichte Selbstporträts und Closed-Circuit-Installationen schon immer eine besondere Rolle als Positionsbestimmung des Künstlers, zur Reflexion des Betrachterstandpunktes oder als erkenntnistheoretische Identitätsfrage. Aber seit die tägliche Herstellung und Verbreitung von bewegten Selbstporträts oder von probeweise eingenommenen Rollen zur Normalität in sozialen Netzwerken geworden ist, haben sich für viele Videokünstler neue Fragestellungen nach der visuellen Konstituierung eines Subjekts, seines Gegenübers und der Selbstwahrnehmung im Bewegtbild ergeben.
Mit dem Thema der Identitätssuche beschäftigt sich der Künstler Martin Brand in seiner Videoinstallation "MySpace" (2008). Auf einer Doppelprojektion zeigt er in einer Folge verschiedene Teenager, die durch eine spezielle Bildkomposition je zweimal nebeneinander wie Zwillinge in ihrem Jugendzimmer auftreten. In der unterschiedlichen Kleidung und abweichenden Pose der Zwillinge spiegelt sich die schwankende Selbstsicherheit in Bezug zur gewählten Selbstinszenierung der jungen Protagonisten.
Das Künstlerduo Pauline Boudry & Renate Lorenz setzt sich in ihrer Arbeit "Toxic" (2012) mit Identitätszuschreibungen auseinander. Die mehrteilige Installation besteht aus Videofilm, Bühnenset und Fotografien und zeigt mit einer Punkfigur und einer Drag Queen zwei hinsichtlich Geschlecht und Herkunft unklare Protagonisten auf einer von künstlichem Dekor überzogenen Bühne. Mit den beiden in ihrem widersprüchlichen Auftreten gefangenen Kunstfiguren, konterkariert durch ihre authentischen Stimmen und das sporadische Verlassen ihrer jeweiligen Rolle, stellt "Toxic" dem Identifiziert-Werden ein schon immer verfälschtes "vergiftetes" Blicken gegenüber.
Um Fragen der Identität und Selbstwahrnehmung kreist das Video "o.T." (2011) von Gilda Weller. Hier denken drei junge Frauen laut und leidenschaftlich über "Glück", "Sicherheit" und "Frau-Sein" nach, wobei die Situation und Motivation der Aufnahme offen bleibt – vielleicht eine mögliche therapeutische Spiegelung per Videobild? Ein raffinierter Bild- und Tonschnitt sowie der Wechsel zwischen Porträtaufnahme und starker Makroeinstellung führen den Betrachter zu der Frage hin, ob und wann eine reale Person durch ihr Abbild hindurch zu dringen scheint.
Selbst- und Fremdwahrnehmung stehen auch im Zentrum der Arbeiten von Eva Weingärtner, die als Akteurin in ihren Videofilmen und Performances in verschiedene Rollen schlüpft und sich ein Alter Ego schafft. In "2me" (2010) umsorgt und küsst eine junge Frau ihr Spiegelbild und treibt das Spiel mit ihm weiter bis an die Grenzen von Selbstverliebtheit hin zur Autoaggression. Wie Weingärtner ist auch Benny Nemerofsky Ramsay in seinen Arbeiten ausschließlich selbst zu sehen. Er wählt das Medium des Video-Selbstporträts, um sich mit existenziellen Fragestellungen wie der Sehnsucht nach Authentizität auseinander zu setzen. Dabei bedient er sich des emotionalen Ausdrucks von Songs und Texten aus der Popmusik. Seine Sound-Installation "The Burden" (2010) konfrontiert den Betrachter mit unendlich vielen Spiegelbildern seiner selbst, während er über Kopfhörer einen siebenminütigen Soundtrack des variantenreich gesungenen englischen Personalpronomens "I" hört, verschmolzen mit einem eindringlichen Technobeat.
In den Fotoserien von Barbara Probst wird das Verhältnis des fotografischen Augenblicks zur Wirklichkeit ausgelotet. Die Künstlerin spaltet das einzelne Bildmotiv in viele Standpunkte und Einstellungen auf und vervielfältigt den kurzen Moment der Aufnahme: Per Funksignal werden verschiedene Kameras aus der Distanz gleichzeitig ausgelöst, die auf ein einziges Motiv hin ausgerichtet sind. Die so erzeugten Bilder definieren jeweils eine Reihe, die von einem einzigen Augenblick zusammengehalten ist: dem des Auslösens zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort, von dem sie alle handeln. Das Einzelbild existiert dadurch nicht mehr. Gleichzeitig entsteht eine Rückkoppelung zwischen den fotografierten Personen, den Fotografierenden und den Betrachtern der Fotografien. Denn was die ebenfalls abgebildeten Fotografierenden sehen, wird oft jeweils durch ein anderes Bild in der Reihe wiedergegeben. Ein spannungsreiches Spiel entwickelt sich so um den Blick auf das Ich und sein Gegenüber und führt hin zur grundlegenden Frage nach der Konstruktion des Subjekts.
KünstlerInnen: Pauline Boudry & Renate Lorenz (CH/DE), Martin Brand (DE), Manuela Kasemir (DE), Sabine Marte (AT), Benny Nemerofsky Ramsay (CA), Barbara Probst (DE), Johanna Reich (DE), Eva Weingärtner (DE), Gilda Weller (DE)
Per Speculum Me Video
31. Oktober 2013 bis 5. Januar 2014