Siebzig Mikroromane von Christoph Ransmayr

Anfang und ein Ende, dazwischen auf zwei bis maximal vier Seiten die hohe Meisterschaft des Erzählens von Begebenheiten, Leben, Schicksalen, die einen Roman füllen könnten. Christoph Ransmayr nimmt diesmal das Alter-Ego namens Lorcan an. Doch die Sammlung der siebzig Mikroromane enthält ausschließlich Tatsachen und Fragmente des Autors, "alle wurden sie an den angegebenen Orten und zu den angegebenen Zeiten tatsächlich erfahren, ausgestanden oder erlitten", schreibt er im Vorwort. „Indem hier einer sein Leben als Lorcan zur Sprache bringt und Szenen und Augenblicke daraus mit Schnappschüssen sichtbar macht, befreit er sich vom Gewicht seiner Erinnerungen und verwandelt einen erschöpften Touristen oder einen von Neugier und Fernweh erfüllten Reisenden in einen gelassenen Erzähler.“

Ransmayr weiß, dass er ein unendlich langsamer Schreiber sei und hat eine lange Liste an Themen, die er noch zur Sprache bringen wollte, entschied sich daher für diese Kurzform, um nicht irgendwann ein unvollendetes Manuskript zu hinterlassen. Mit wie vielen Geschichten kann man einen Kreis um die Welt beschreiben? Die aus über zweihundert gewählte Anzahl falle nur zufällig mit seinem Alter zusammen, sagt er in einem Interview in „Erlesen“ mit Heinz Sichrovsky. Siebzig Bilder, im Vorübergehen und ohne gestalterischen, technischen Aufwand gemachte Fotos, mit siebzig essentiellen, fantasieanregenden Geschichten: die durch meterdickes Packeis zum Nordpol führen, in den Schatten der Sonnenpyramide, zum Elefantenfest oder in Telemachs Bucht. Oder zu Odysseus, über den Lorcan auf seinen Reisen auch oft nachgedacht hat: „Aber eine Irrfahrt im Mittelmeer, die Jahrzehnte dauerte und an ihrem vermeintlich glücklichen Ende nur zu einem weiteren Blutbad führte?“  

Bei seinen Reisen treibt Ransmayr die Neugier. Das Gefühl könne aber durchaus im Dorf, zu Hause, am Kachelofen entstehen, indem man ein Buch öffnet, wo von Welten die Rede ist, die zunächst unendlich weit weg sind, „doch irgendwann kommt die Sehnsucht, das Fernweh, sich auf die Spur zu begeben und nicht nur den Geschichten über Zeilen zu folgen, sondern als Reisender, als Tourist.“

Den Titel des Buchs findet man auf dem Foto zur gleichnamigen Geschichte: „EGAL WOHIN BABY“ mit weißem Farbspray auf ein Treppenpodest beim Ingolstädter Bahnhof geschrieben, und das Titelbild gehört zu „Spuren, dahin und dorthin“, wo in der Betrachtung der eigenen Tritte die Belehrung aus einer Amselspur reflektiert wird: „So musste man gehen, Monster!, stets bereit, aufzufliegen und doch wie mit dem Boden vernäht, jeder Trippelschritt ein Kreuzstich in die Erde, in den Schnee.“

Man möchte noch weitere solcher Passagen anführen und vor allem beim Lesen keine der Kostbarkeiten auslassen, darum sei empfohlen das Buch zuerst von Anfang bis zum Ende zu lesen, um sich dann noch einmal, zweimal … in einzelnen dieser Mikroromane fantasievoll zu verlieren. Welch großartige Geschichten, was für eine wunderbare Sprache!

Christoph Ransmayr, geboren 1954 in Oberösterreich, ist ein notorisch Reisender. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, 

Christoph Ransmayr Egal wohin, Baby
Mikroromane
256 Seiten, 70 S/W Fotos
S. Fischer Verlag, 2024
ISBN: 978-3-10-397661-8