Sehen oder zugrunde gehen

Thomas Ruff gehört zu den wichtigsten Fotografen der Gegenwart, dessen Werk den Blick auf so unterschiedliche Bereiche des Alltags lenkt wie Menschen, Architektur, den Kosmos, das Internet. Mit einer umfangreichen Einzelausstellung bestehend aus 11 Werkgruppen mit insgesamt rund 150 Einzelwerken ermöglicht die Kunsthalle Wien erstmals in Österreich einen umfassenden Einblick in das vielfältige Schaffen des Künstlers.

Thomas Ruff studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie und ging neben Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte und Thomas Struth als international gefeierter Schüler von Bernd und Hilla Becher hervor. Der Fotograf ist ein scharfer und konzentrierter Beobachter seiner Motive. Objektivität ist für ihn dabei aber kein neutraler Begriff, sondern wird mit jeder Aufnahme von neuem befragt. Die Serie von großformatigen Porträts beispielsweise, an der Ruff bereits seit 1986 arbeitet und für die er international bekannt wurde, imponiert durch die beharrliche Emotionslosigkeit, mit der die ihm meist nah stehenden Modelle festgehalten sind. Diese Herangehensweise verhilft ihm zu einem hyperpräzisen, chirurgischen Blick, der alles bis ins kleinste Detail gleichwertig wiedergibt.

Ruffs Ansatz verdeutlicht auch, wie sehr er sich für die Geschichte der Fotografie interessiert, ihren Untersuchungsgegenstand kritisch reflektiert und dem Medium zuweilen auch skeptisch gegenüber steht. Von Stereoskopien des Städtebaumythos Brasilia über anti-essayistisch und auf Handlungsanweisungen beruhende Architekturaufnahmen von Herzog & de Meuron bis hin zu digitalen Verarbeitungen von auf der NASA-Website frei verfügbaren Bildern des Planenten Saturn ergründet der Künstler die Begriffe des Exemplarischen, der Objektivität, der Realität und des Zeitgeistes. Anhand der Hälfte von mittlerweile rund zwanzig Werkgruppen untersucht die Ausstellung das auf Anhieb einfach anmutende, aber bei längerer Betrachtung stark diskursive Begriffspaar von Oberfläche und Tiefe, und lenkt den Blick auf formale Aspekte in Thomas Ruffs Werk, denen man in seinem gesamten Schaffen immer wieder begegnet.

Zeitgerecht zum internationalen Astronomiejahr 2009 präsentiert Thomas Ruff erstmals einem breiten Publikum Arbeiten aus seiner aktuellsten Serie cassini — subtil manipulierte, von der Cassini-Raumsonde aufgenommene Bilder des Saturn und seiner Monde. Vor 400 Jahren öffnete der italienische Astronom Galileo Galilei mit seinem Teleskop den Blick zum Himmel. Er revolutionierte damit das Selbstbild des Menschen in Bezug auf das Universum, aber auch sein Verständnis von und den Umgang mit den Begriffen Nähe und Ferne, Oberfläche und Tiefe. Thomas Ruff. Oberflächen, Tiefen macht erfahrbar, was diese Begriffe, umgelegt in Bilder phänomenologisch mit dem Betrachter anstellen und wie sie ihn fordern.

Das Begriffspaar Oberflächen/Tiefen bildet Thomas Ruff auch in den dreidimensional anmutenden Kurvendarstellungen der zycles ab, eine sinnliche Erfahrung vom Schweifen in virtuelle Tiefen, wie sie nur dem Blick des menschlichen Auges vergönnt ist. Gleichzeitig werden bei der Betrachtung der dargestellten Motive auch die inhaltlichen Absichten des Künstlers deutlich – als kritischer Kommentator diverser wirklichkeitsbeschreibender und -manipulierender Möglichkeiten des fotografischen Apparates. "Die Wirklichkeit vor der Kamera ist Wirklichkeit ersten Grades, die Abbildung der Wirklichkeit vor der Kamera ist Wirklichkeit zweiten Grades, danach gibt es alle möglichen Abstufungen und Verfälschungen" (Thomas Ruff, 2009).

Thomas Ruff, geboren 1958 in Zell am Harmersbach, lebt und arbeitet in Düsseldorf.


Thomas Ruff - Oberflächen, Tiefen
21. Mai bis 13. September 2009, Halle 1