Segnits Aromenrad

21. November 2011 Kurt Bracharz
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Die meisten neuen Bücher zu den Themen Kochen und Essen sind bestenfalls Supplements zu den Standardwerken, von denen man als Küchen-Novize einmal ausgegangen ist. Für die österreichische Küche zum Beispiel käme man immer noch mit den beiden Bänden von Franz Maier-Bruck "Das Große Sacher Kochbuch" (hauptsächlich Wiener Küche) und "Vom Essen auf dem Lande" (die Bundesländer im einzelnen) aus, aber natürlich wird man sich auch Bücher von den Interessanteren unter den aktuellen Köchen anschaffen, in der Hoffnung, dadurch vielleicht ein paar wirklich neue Kombinationen, Techniken oder sogar Rezepte zu erfahren. (Ich habe mir beispielsweise zwei in diesem Herbst erschienene Kochbücher gekauft, weil sie Rezepte für die Milz enthalten, die endlich mal über die altbekannten Milzschnitten hinausgehen. Wenn Ihnen das Beispiel befremdlich vorkommt, dann schauen Sie doch bitte einmal nach, wie viele Rezepte für Milz Sie in Ihrer Küchenbibliothek finden – Sie müssen sie ja nicht gleich nachkochen, wenn Sie keine Milz mögen.) Aber auch wenn es durchaus interessant zu lesen ist, welche persönlichen Details zu diesem oder jenem altbekannten Gericht man in den Büchern von Gerer, Petz, Rieder usw. finden kann, der große Umsturz in der eigenen Küche ist davon nicht zu erwarten.

Niki Segnits Buch "Der Geschmacksthesaurus" (Bloomsbury Berlin) hingegen hat auf Grund seines ganz anderen Ansatzes echtes Potential, den Blick auf die eigene Küchentätigkeit insgesamt zu verändern. Segnit, die sich selbst im Vorwort "nur eine gewöhnliche, wenn auch etwas zwanghafte Familienköchin" nennt, was vermutlich doch eine Art Tiefstapelei ist, auch wenn sie tatsächlich keine Berufsköchin ist, Niki Segnit also hat in ihrem Buch zuerst 16 Geschmacksnoten (geröstet, fleischig, käseartig, erdig usw.) konstruiert und diese anschließend in 99 Geschmacksrichtungen (Schokolade, Kaffee, Erdnuss, Huhn, Schwein usw.) unterteilt und somit ein Aromenrad geschaffen, das vorne im Buch abgebildet ist. In diesem Rad grenzt der Abschnitt "schweflig" an "senfartig" (letzte Eintragung: Meerrettich) einer- und "maritim" (erste Eintragung: Meeresfrüchte) andererseits und umfasst Zwiebel, Knoblauch, Trüffel, Kohl, Kohlrübe, Blumenkohl, Brokkoli, Artischocke, Spargel und Ei.

Im Text geht es dann immer um Paarungen dieser Geschmacksrichtungen, auf den sieben Seiten für Schokolade also von Schokolade & Ananas bis Schokolade & Zitrone. Dazwischen stehen Kombinationen wie Schokolade & Avocado, Schokolade & Blutwurst, Schokolade & Speck, wobei ich die beiden letzteren als Beispiele ausgewählt habe, weil Segnit natürlich nichts von den österreichischen Firmen Dormayer ("Mozart-Blunzen") und Zotter (Schokolade mit Schweinsgrammeln) weiß und ihre Beispiele aus dem italienischen (sanguinaccio) bzw. amerikanischen (Tea & Cakes in Boulder/ Col.) Raum nimmt, die wiederum bei uns weniger bekannt sind. Aber das ist nur eine Kleinigkeit am Rande, das Buch ist eine äußerst anregende Lektüre, ich zitiere noch ein komplettes, kurzes Beispiel für eine Paarung: "Anis & Ananas: Philip Searle, der australische Küchenchef, ist berühmt für sein Schachbrettdessert aus Ananas-, Vanille- und Sternaniseis. Ananas und Fenchel, notiert der britische Koch Aiden Byrne, ließen sich sowohl in herzhaften Gerichten wie gebackener Gänsestopfleber mit Fenchel und karamellisierter Ananas als auch in süßen, wie Joghurt mit gerösteter Ananas und Fenchelschaum, aufs Köstlichste verbinden. Oder probieren Sie mal einen Schuss Pernod in Ihrem Ananassaft – schon haben Sie einen erfrischenden Longdrink."

Das Buch enthält auch Rezepte, allerdings sind sie "ähnlich wie in viktorianischen Kochbüchern" formuliert, nämlich in einer kürzestmöglichen Fassung, für deren Verständnis man eine gewisse Kocherfahrung braucht; Segnit spöttelt, dass sie eben davon ausgehe, dass die Leserin oder der Leser weiß, dass man Speisen Salz hinzufügen kann, dass man den Herd nach Gebrauch abschaltet und dass man Dinge, an denen "Ihre Lieben ersticken könnten", vorher aus dem Essen herausfischt. Der Spott ist aber nicht unangebracht, denn es gibt mittlerweile ja tatsächlich schon einige Kochbücher, in denen in Fotoserien gezeigt wird, wie man die Pfanne auf die Herdplatte setzt, wie man Öl in die Pfanne gießt, usw. Und da ist noch etwas, was Segnits Buch unter den Neuerscheinungen positiv heraushebt: Es enthält keine Fotos oder sonstigen Bilder (von dem schematischen Aromarad einmal abgesehen). Wahrscheinlich, weil es für ein Publikum geschrieben ist, das schon einmal Schokolade, Weichkäse, Paprikaschoten oder ein Schwein gesehen hat und deshalb gut auf Abbildungen dieser Objekte verzichten kann.