Schweizer Skulptur seit 1945

Die Ausstellung im Aargauer Kunsthaus gibt einen Überblick über das vielseitige skulpturale Schaffen in der Schweiz von 1945 bis heute. 230 Werke von 150 Kunstschaffenden aus allen Landesteilen sind zu entdecken.

Anders als ein Bild wirkt eine Skulptur zuallererst als ein reales Objekt. Wir treten mit ihr in eine räumliche Beziehung, die Begegnung wird zum Erlebnis. Es erstaunt nicht, dass die Kunstkritik dieser Unmittelbarkeit in jüngerer Zeit eine besondere Bedeutung beimisst: Die Skulptur gilt mehr denn je als eine Königsdisziplin der Kunst.

Der Skulpturenbegriff wird heute sehr weit gefasst. Die Ausstellung spiegelt das breite Spektrum der Ausdrucksformen, sie erfüllt jedoch auch die Erwartungen und präsentiert skulpturale Arbeiten, die zu Klassikern der Gattung geworden sind: Bronzefiguren von Alberto Giacometti, die uns auf unsere fragile Existenz zurückwerfen, oder die geometrischen Körper von Max Bill und die kinetischen Maschinen aus Schrott von Jean Tinguely. Aber wir begegnen auch den unförmigen Tastsäcken von Doris Stauffer oder den Polyester-Aliens des Oscar-Preisträgers H.R. Giger. Jenseits der klassischen Medien berichtet Dieter Roths aus Schokolade gegossenes und langsam verrottendes Selbstbildnis von der Vergänglichkeit der Kunst und des Lebens, während die auf Gegenstände projizierten Videobilder von Pipilotti Rist oder das von Delphine Reist inszenierte lustige Trötenkonzert die Grenzen zu anderen Disziplinen verschwinden lassen.

Die umfassende Schau im Aargauer Kunsthaus widmet sich der Schweizer Skulptur von 1945 bis heute mit 230 Werken von 150 Kunstschaffenden aus allen Landesteilen. Ausgehend von den avancierten Positionen der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Jean Arp, Max Bill, Alberto Giacometti, Germaine Richier, aber auch den damals noch weitgehend die Schweizer Kunstszene bestimmenden "Traditionalisten" wie Karl Geiser und Remo Rossi führt die Ausstellung zu den vielfältigen Tendenzen der Kunst der 1960erJahre. Die Werke eines Walter Bodmer oder Bernhard Luginbühl prägen die bis heute anhaltende Strömung der Schweizer Eisenplastik. Parallel dazu entstehen neue Avantgarden, etwa der "Nouveau Réalisme", massgeblich geprägt durch Jean Tinguely, Niki de Saint Phalle, André Thomkins und verflochten mit der Fluxus-Bewegung – man denke an Dieter Roth oder Daniel Spoerri. Die Pluralität der Stile nimmt in den 1970er-Jahren weiter zu: Ob Konstruktion, Abstraktion, entmaterialisiertes Konzept oder Expressivität und Innerlichkeit – alles ist jetzt möglich, bis sogar, mit einem Höhepunkt in den 1980er-Jahren, das Alltägliche in die Kunst einkehrt und die internationale Kunstbühne erobert – Fischli/Weiss sind dabei die prominentesten Vorreiter. Bei den jüngsten Generationen lassen sich zwei unterschiedliche Haltungen beobachten: Zum einen die (postmoderne) Schaffenslust aus der befreienden Erkenntnis heraus, dass es alle Formen der Skulptur schon einmal gegeben hat und somit alles erlaubt ist; zum anderen das neue Interesse am Material und an dessen handwerklicher Bearbeitung. Verbindend wirkt das Bewusstsein der Kunstschaffenden, mit ihrem Werk einen Beitrag zur Ergründung unserer diversen, komplexen, ja widersprüchlichen Welt zu leisten.

Der Ausstellungsrundgang folgt einer losen Chronologie, hält aber immer wieder inne, um mittels inszenierter Nachbarschaften bestimmte Ausdrucksformen, Materialien oder Themen zu beleuchten. Dabei sind einige Wieder- und auch Neuentdeckungen gewiss. Ein besonderes Raumkonzept verwandelt den Erweiterungsbau von Herzog & de Meuron aus dem Jahr 2003 in eine lichtdurchflutete "Skulpturenhalle": Die hier installierten Arbeiten interagieren miteinander, mit dem Ausstellungsraum und mit dem Publikum. Das Zusammenspiel zwischen Skulptur und Umgebung verändert sich nochmals im Übergang vom Innen- zum Aussenraum: Weitere Exponate sind im Museumsfoyer zu entdecken und 24 Werke sind im Freien platziert, von der Museumsterrasse bis in die hintersten Winkel des benachbarten Rathausgartens.

Schweizer Skulptur seit 1945
12. Juni bis 26. September 2021