Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart

Noch nie wurde der "Kosmos Steiner" so umfangreich dargestellt wie durch die beiden Ausstellungen "Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart" und "Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags". Das zweiteilige Großprojekt greift ein Phänomen auf, das bisher noch wenig Beachtung fand, aber zu einem der spannendsten Kapitel der modernen Kunst und Geistesgeschichte gehört.

Bedeutende Künstler, angefangen von Wassily Kandinsky über Piet Mondrian bis zu Joseph Beuys, haben sich immer wieder mit der universellen Ideenwelt von Rudolf Steiner beschäftigt und daraus wertvolle Impulse für ihre Arbeit bezogen. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts erhält diese Verbindung durch das steigende Interesse von Gegenwartskünstlern an Steiner eine neue Brisanz. Gleichzeitig erlebt das ganzheitliche Weltbild wie das von Steiner vor dem Hintergrund lebhafter Debatten über ökologische Verantwortung, religiöse Sinnsuche und über ein aus den Fugen geratenes Wirtschaftssystem wieder stärkere Beachtung.

In einem ersten Teil behandelt die vom Vitra Design Museum produzierte Ausstellung "Die Alchemie des Alltags" das Wirken dieses bedeutenden Reformers im 20. Jahrhundert in Architektur, Design, Kunst und Gesellschaft. Sie ist die weltweit erste Retrospektive zum Werk Steiners. Die vom Kunstmuseum Wolfsburg in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Stuttgart erarbeitete Schau "Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart" versucht, die universalistische Ideenwelt Steiners anhand der Werke von 15 Künstlern von heute aus neu aufzuschließen.

Die einmalige Konstellation von Gegenwartskunst und ganzheitlicher Weltanschauung soll in diesem Projekt durch ein ganz spezielles Konzept sinnlich erfahrbar gemacht werden: Kunstwerke von namhaften Gegenwartskünstlern, die nicht dem anthroposophischen Kontext entstammen, wie u.a. Tony Cragg, Olafur Eliasson, Helmut Federle, Anish Kapoor, Meris Angioletti oder Bernd Ribbeck treffen sich zu einem Dialog mit der ästhetischen und philosophischen Ideenwelt Rudolf Steiners.

Die Annäherung erfolgt durch beziehungsreiche Gegenüberstellungen: rund 65 Skulpturen, Gemälde, Objekte, Videoprojektionen und z.T. eigens konzipierte Installationen auf der einen Seite und auf der anderen rund 30 Zeichnungen, Objekte, Modelle, Dokumente und Wandtafelzeichnungen, die Steiner während seiner über 5000 Vorträge hergestellt hatte und die komplett im Rudolf Steiner-Archiv in Dornach erhalten wurden.

Diese Begegnung mit der spirituell und ethisch kodierten Ideenwelt von Rudolf Steiner birgt eine doppelte Chance: Einerseits öffnet sie der Gegenwartskunst ein ebenso vielseitiges wie universales Gedankengebäude, das den Menschen und seine Beziehung zur Natur und zum Kosmos in den Mittelpunkt stellt. Anderseits können die unabhängigen Methoden der Gegenwartskunst helfen, Impulse Rudolfs Steiners, die durch manch enge Auslegung erstarrt sind, auf unkonventionelle Weise freizulegen – gleichsam Steiner zu "entsteinern".

Einer der ersten, der Steiner für die heutige Zeit aktualisierte, war Joseph Beuys. 1971 berichtet er in einem Brief, "[dass] gerade von ihm (Steiner) ein Auftrag an mich erging, auf meine Weise den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen." Beuys griff Steiners Reformgedanken und seine Verbindung von Kunst und Leben auf und transformierte sie in sein Konzept der "sozialen Plastik". Im Unterschied zu dieser direkten künstlerischen "Nachkommenschaft" beweisen die Annäherungen in der jüngeren Generation in der Vielfältigkeit der Bezüge die universelle Vielseitigkeit des "Kosmos Steiner".

So aktualisieren Olafur Eliasson und Carsten Nicolai in ihren grenzüberschreitenden, technischen Installationen den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft, der nach Goethe in der materialistischen Ära aufgespalten wurde. Die naturbezogene Kunst von Mario Merz und Giuseppe Penone beispielsweise verdeutlicht Steiners Vorläuferschaft in Sachen Umweltbewusstsein. Spektakulär ist eine 15 Meter hohe, farbige Skulptur, die Katharina Grosse eigens für die große Halle geschaffen hat und Steiners "Denken in Farben und Formen" eindrucksvoll in den Raum übersetzt.

Anish Kapoor übersetzt Steiners Idee der multiplen Bewussteinswelt von Leib und Seele, Materie und Geist in unsere Zeit. Der indisch-britische Künstler entwarf einen Massageraum, in dem Besucher sich massieren lassen können. Es ist bekannt, dass viele Menschen, während ihr Körper massiert wird, verschiedene Farben wahrnehmen. Kapoor steigert diese sinnlich-geistige Erfahrung und verdeutlicht Steiners Erkenntnis, dass wir nicht nur in einer, sondern in verschiedenen Bewusstseinswelten leben: in der physischen, aber auch in einer geistigen, die wir mit einem eigenen "ätherischen Leib" erleben können.

Die eingeladenen Künstler waren begeistert, auf diesen Zusammenhang angesprochen zu werden, obwohl sie ihre eigene künstlerische Konzeption völlig unabhängig vom anthroposophischen Kontext als autonomes Werk entwickelt haben. Es geht also nicht darum, kausale Einflüsse von Steiner nachzuweisen, vielmehr um einen Dialog auf Augenhöhe, bei dem auch Rudolf Steiner neu gesehen werden kann. Die Namensliste enthält Gegenwartskünstler, für die sich vermutlich umgekehrt heute Rudolf Steiner interessieren würde.

Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart
Eine Ausstellung des Kunstmuseum Wolfsburg
in Kooperation mit dem Kunstmuseum Stuttgart
13. Mai bis 3. Oktober 2010