Mit der Ausstellung "Rudolf Lichtsteiner – Zum Stand der Dinge" präsentiert die Fotostiftung Schweiz die erste umfassende Retrospektive des Fotografen Rudolf Lichtsteiner (geboren 1938 in Winterthur). Sie zeigt ausgewählte Werkgruppen aus dessen Vorlass, den die Fotostiftung Schweiz seit 2012 betreut und erforscht. Sein Gesamtwerk umfasst rund 1.000 Originalabzüge, Foto-Objekte und Leporellos, die über einen Zeitraum von 50 Jahren entstanden sind.
Rudolf Lichtsteiner zählt zu den herausragenden Vertretern einer künstlerischen Fotografie, die seit den 1970er Jahren das als "authentisch" angenommene fotografische Bild und die Abbildhaftigkeit der Fotografie hinterfragt. Als einer der ersten Schweizer Fotografen hat er in seinen Bildern bereits in den späten 1960er Jahren die medialen Eigenheiten der Fotografie, ihre Charakteristika und tradierten kulturellen Gebrauchsweisen reflektiert und ihre Grenzen hin zur Wirklichkeit ausgelotet. Der gelernte Retoucheur arbeitete zunächst in Basel und Zürich als Werbefotograf. Gleichzeitig entstanden erste freie Foto-Serien. Trotz seines innovativen Ansatzes wurde seinem OEuvre in der Fotowelt bislang nur wenig Beachtung geschenkt.
Die Ausstellung der Fotostiftung Schweiz gibt nun erstmals Einblicke in die unterschiedlichen Bildkonzepte, die Rudolf Lichtsteiner während seines fotografischen Schaffens entwickelt und konsequent verfolgt hat. Lichtsteiners frühe Aufnahmen aus dem Sommer 1961 in Berlin sind erste fotografische Zeugnisse seiner zahlreichen Reisen durch Europa. Mit diesen Städte- und Landschaftsbildern, bei denen der Autodidakt erstmals mit dem Verfahren der Mehrfachbelichtung experimentierte, erregte er 1966 internationales Aufsehen, als ihm dafür der renommierte Prix Nicéphore Niépce zugesprochen wurde. 1967 fügt Lichtsteiner 22 Fotografien zu dem 880 Zentimeter langen Leporello "Prag" zusammen – dem ersten und umfangreichsten Klappobjekt seines OEuvres, welches neben vier weiteren, farbigen wie schwarzweissen Leporello-Arbeiten in dieser Ausstellung zu sehen ist.
Rudolf Lichtsteiners Begegnung mit dem tschechischen Fotografen Josef Sudek und dessen Bildern veränderte seine fotografische Herangehensweise: Seit den frühen 1970er Jahren rückt er alltägliche Gegenstände wie etwa einen Tisch, einen Baum oder einen Ball mittels der Fotografie aus ihrem gewöhnlichen Kontext, um deren Eigenleben durch neue Ding-Konstellationen herauszustellen. Er nimmt sich die Negativmontage und spezielle Objektive zur Hilfe, um seine erdachten Bildwelten im Atelier zu kreieren. Diese entfalten eine stille, eindringliche und zeitweise traumnahe Poesie. Lichtsteiners Schaffen gleicht damit dem eines fotografischen Philosophen der Dinge, deren Bedeutungsspektren er in gross angelegten Zyklen einkreist und auslotet.
Die umfangreichen, in dieser Ausstellung präsentierten "Tischgeschichten" (1981-1987) und die «Baum-Werke» (1979-1980) entstehen während seiner Lehrtätigkeit an der Schule für Gestaltung in Zürich. Dort unterrichtet Rudolf Lichtsteiner von 1976 bis 1986; ab 1983 in der Funktion des Leiters der Fotoklasse. In Anknüpfung an seine Ausstellung "Reisen um mein Zimmer" konzipiert Lichtsteiner 1983 seine einzige Filmarbeit. Diese, ebenfalls in der Ausstellung zu sehen, veranschaulicht die Entstehung seiner Ding-Inszenierungen, führt in seine Arbeitsweise ein und stellt gleichzeitig ein eigenständiges audiovisuelles Kunstwerk dar.
In den frühen 1990er Jahren nimmt Lichtsteiner einen neuen Blickwinkel auf die Fotografie ein: Mit seinen "Sukzessionen" thematisiert er das Licht als ureigenes fotografisches Medium. Durch mehrfache Belichtung und Überlagerung von Pflanzenteilen wie Unkraut oder Früchten entstehen Fotografien, die Lichtsteiner als "raumbetont und tonwertreich, transparent und komprimiert" beschreibt. In der Ausstellung nehmen diese malerisch anmutenden, großformatigen Bilder eine besonders exponierte Stellung ein. Die Befragung der Fotografie und ihrer Möglichkeiten ist auch Thema von Lichtsteiners als "Sonnenbelichtungen" oder "Heliografien" bezeichneten Bildern, die von 1993 an entstehen. Dabei handelt es sich um Fotogramme einfacher Gegenstände, die ein Farbenspiel von Sepia über Ocker bis hin zu Lila und Gelbtönen ausbilden. Ein gutes Duzend dieser Unikate werden in der Ausstellung präsentiert. Eine besondere Rarität sind dabei Lichtsteiners erste Sonnenbelichtungen von 1979: Dabei legte der Fotograf einen Schriftzug auf Ahornfurnier und setzte diesen über Monate der Sonne aus, sodass ein zartes Schriftbild-Positiv auf der lichtempfindlichen Holzoberfläche entstand.
Lichtsteiners Schrift-Bilder stellen einen weiteren Schwerpunkt der Ausstellung dar: In den 1990er Jahren erstellt er Textbilder, die programmatische Titel wie "Fotografie ist so schwierig, weil sie so einfach ist", "Zufall" oder "Jeder kann mitmachen" tragen – Hypothesen, die ihn auch als Philosophen ausweisen. Plastische Holzbuchstaben werden darin zu den Protagonisten dieser ästhetisch reduzierten Bilder, mittels derer Lichtsteiner die Fotografie und ihre kulturelle Bedeutung hinterfragt. Etwa zeitgleich beginnt er, vermehrt Annahmen über die Fotografie niederzuschreiben und in Künstlerbüchern mit seinen Bildern zu kombinieren. Durch die Verschränkung eigener Texte und Fotografien drückt Lichtsteiner nicht nur retrospektiv Gedanken zu seinen Bildern aus, sondern schafft auch innerhalb seiner Bücher neue Beziehungen und Bedeutungen.
Das Schreiben über die Fotografie hat Lichtsteiners fotografisches Schaffen seit 2009 vollständig ersetzt. Ob Fotografie oder Schrift – dies zeigt die Ausstellung der Fotostiftung Schweiz: Rudolf Lichtsteiner geht es stets um den Ausdruck einer Idee, wofür er beide Medien abwechselnd oder miteinander verschränkend auf ganz spezifische Weise einsetzt.
Rudolf Lichtsteiner. Zum Stand der Dinge
24. Oktober 2015 bis 14. Februar 2016