Rossella Biscotti. The Side Room

Meist sind es Ereignisse der jüngeren Geschichte und Politik, die den Ausgangspunkt für Rossella Biscottis Projekte bilden. Ihr Interesse gilt auch Themen und Erkenntnissen aus dem Bereich der Sozial- und Naturwissenschaften, wobei ihr Fokus auf Untersuchungen und Experimenten zu Erinnerung und Träumen liegt. Auslöser für ihre akribisch durchgeführten Recherchen sind oft Artikel aus Magazinen oder Zeitungsausschnitte, die ihre Aufmerksamkeit erregen und in denen sie Fragmente persönlicher Geschichten erkennt, die sie im Zuge ihrer Arbeiten zu Reflexionen über Identität, das Verhältnis zu Realität und die Darstellung von Erinnerung in Ausstellungsprojekte transformiert.

Ihre auf Dialog aufgebaute Arbeitsweise in Form von Recherchen sowie Gesprächen und Interviews mit Beteiligten und ZeitzeugInnen wird für konkrete Ausstellungspräsentationen stets begleitet von ihrer Suche nach formal-stringenten Lösungen. Zu ihren bevorzugten Mitteln zählen hierbei "arme" Materialien wie Beton, Eisen, Blei, Spanplatten oder kürzlich Kompost, die von Biscotti in Bezug zur Thematik gestellt werden und die unterschiedlichen Erzählstränge miteinander verbinden.

Ihre bislang bekannteste und umfassendste Arbeit ist "The Trial" (Der Prozess, 2010-2012), eine multimediale Installation aus Skulpturen, Audiocollagen, Videos und Performances, für die sie 2010 den Premio Italia Arte Contemporanea erhielt und die 2012 auf der dOCUMENTA (13) gezeigt wurde. Die Arbeit nimmt im sogenannten "Processo 7 aprile" (Gerichtsprozess vom 7. April) von Rom ihren Ausgang. Am 7. April 1979 wurden Mitglieder der revolutionären Linken (von Potere Operaio und Autonomia Operaia) in erster Linie Intellektuelle, AutorInnen und LehrerInnen verhaftet und terroristischer Handlungen beschuldigt.

Zu den bekanntesten Verurteilten zählen die Philosophen Paolo Virno und Antonio Negri, der beschuldigt wurde, Drahtzieher hinter der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteivorsitzenden Aldo Moros durch die Roten Brigaden gewesen zu sein. Der Prozess fand von 1982 bis 1984 im sogenannten Aula Bunker statt, einem Gebäude, das in den 1930er-Jahren im rationalistischen Stil als Fechtschule gebaut worden war und das für seine Funktion als Hochsicherheitsgericht adaptiert wurde. Von diesen Einbauten, wie Gitterkäfigen für die Angeklagten, fertigte Biscotti Betonabgüsse an, die sie zusammen mit einer sechsstündigen Audioinstallation von den originalen Prozessaufnahmen ausstellt. Simultanübersetzungen der Audioinstallation sowohl von professionellen Dolmetschen als auch von Laien sind häufig Teil der Präsentation dieser Arbeit.

Ihre jüngste Arbeit "I dreamt that you changed into a cat… gatto… ha ha ha" wurde von Rossella Biscotti für die diesjährige Venedig Biennale entwickelt, wo sie derzeit im Rahmen der von Massimiliano Gioni kuratierten Ausstellung Il Palazzo Enciclopedico im Arsenal zu sehen ist. Biscotti hat dafür einen mehrmonatigen Traum-Workshop (Laboratorio Onirico) mit einer Gruppe von 14 Insassinnen des venezianischen Frauengefängnisses von der Insel Giudecca abgehalten. Parallel dazu hat sie die im Gefängnis praktizierte Kompostierung von Abfällen aus dem institutionseigenen Garten aufgegriffen. Für die Dauer des Projekts hat sie zusammen mit den Gefangenen die Zusammenstellung des Komposts, der normalerweise nur Gartenabfälle beinhaltet, verändert und um Essensreste erweitert, die von den Insassinnen gesammelt wurden.

Da der Kompost für das Projekt bestimmt war, wussten die Frauen, dass er das Gefängnis verlassen und auf der Biennale ihr Leben repräsentieren würde. Die Menge des Komposts bestimmte letztendlich die Größe von Biscottis skulpturaler Setzung im Arsenal: aus Kompost geformte und an Fundamentfragmente erinnernde Formen, die selbst wiederum Träumen aus dem Workshop entstammen.

In "The Side Room", ihrer ersten Einzelausstellung im Österreich, zeigt Biscotti im Grafischen Kabinett eine ganz andere Facette aus dem venezianischen Traum-Projekt. Eine Audiocollage aus dem Laboratorio Onirico lässt die Frauen direkt zu Wort kommen. In dem einstündigen Zusammenschnitt erzählen Cristina, Daniela, Diana, Elena F., Elena S., Hanan, Luciana, Manuela, Pina, Racheal, Rita, Roberta, Samira und Suad ihre Träume, mitunter von Zwischenfragen und Kommentaren der anderen unterbrochen. An den Wänden hängen die Portraits der Sprecherinnen und agieren als Stellvertreterinnen für Menschen, die nicht anwesend sein können. Diese Portraits wurden von Roberta Baseggio angefertigt, der einzigen Träumerin, deren vollen Namen wir erfahren.

In einer Vitrine im Raum zeigt Biscotti einige hastig notierte, auf Zeichenpapier, Kalender- und Notizbüchern festgehaltene Sitzordnungen vom Workshop, die auf das sensible Gefüge einer Gruppe verweisen und gleichzeitig den Raum und die Architektur als Konstante ausweisen. Findet die Absenz der Sprecherinnen ihr Äquivalent in der bewusst reduzierten Gestaltung des Raumes, so stellen die von Biscotti entworfenen Eisenmöbel in ihrer physischen Präsenz den Gegenpol zur Immaterialität der Audioinstallation und der Körperlosigkeit der Portraits dar. Es ging darum herauszufinden, wie dieses Hin- und Herschwenken zwischen dem Institutionellen und dem Individuellen, der Gruppe und der Einzelperson funktioniert. Wie entsteht ein gemeinsamer Moment und wie wird er aufrechterhalten – das ist das Wichtigste in diesem Projekt.

Ein Projekt, das Rossella Biscotti ganz speziell für ihre Ausstellung in der Secession initiiert hat, findet sich ausschließlich in der Publikation wieder, die von der Künstlerin gleichsam als Erweiterung der Ausstellung behandelt wirdund die ungewöhnliche Verbindung zweier autonomer Projekte betreibt. Als die Künstlerin zur Vorbereitung ihrer Ausstellung nach Wien kam, hat die besondere Organisationsform der Secession als Ausstellungshaus, das von einer KünstlerInnenvereinigung nach demokratischen Grundsätzen geleitet wird, ihr Interesse geweckt und sie spontan dazu bewogen, den für die Ausstellungsprogrammierung verantwortlichen Vorstand einzuladen, ebenfalls an einem von ihr initiierten Traumprojekt teilzunehmen.

Für das Wiener Traumprojekt, an dem insgesamt acht Mitglieder des Vorstands teilnahmen, wurde ein nicht öffentliches Blog eingerichtet, in dem die TeilnehmerInnen ihre Träume anonym als Text oder visuell in Form von Zeichnungen oder Fotos posten und miteinander teilen konnten. Gleichzeitig wurde das gesammelte "Traummaterial" auf diese Weise der Künstlerin zur Verfügung gestellt. Beide Traumprojekte zusammen sollten aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Verhältnis und die Wechselwirkungen von Träumen und institutionellen Rahmenbedingungen erforschen.

Zusätzlich zum Traumprojekt mit dem Vorstand hat sich die Künstlerin mit der Architektur und der Baugeschichte der Secession beschäftigt. In der vom Wiener Architekten Adolf Krischanitz verantworteten Generalsanierung der Secession (1985–1986) – die eine Gratwanderung zwischen Denkmalschutz, Architekturarchäologie und den Anforderungen eines zeitgenössischen Ausstellungsbetriebes darstellte – identifizierte Biscotti einen wichtigen Einschnitt und einen Moment der Erneuerung in der Geschichte der KünstlerInnenvereinigung.

Im Zusammenhang mit ihrem Vorstandsprojekt konzentrierte sie sich auf die Möbelentwürfe von Krischanitz für das Sitzungszimmer sowie das damals im ganzen Haus umgesetzte Farbkonzept des Künstlers Oskar Putz, das heute nur noch im Sitzungszimmer vollständig vorhanden ist. In weiterer Folge forschte Biscotti im Archiv der Secession und führte Gespräche mit Adolf Krischanitz und Oskar Putz. Das Farbsystem aus 43 Farben, das Putz für die Secession konzipiert hat, wurde für den Katalog rekonstruiert und nimmt dort eine zentrale Rolle ein: analog zu den Portraits der Frauen aus dem Gefängnis repräsentieren die Farben für Biscotti – ähnlich wie Baupläne – die Secession. Die über den ganzen Katalog verteilten Farbseiten bilden zudem eine visuelle Brücke zwischen den beiden Traumprojekten.

Rossella Biscotti. The side room
5. Juli bis 1. September 2013