Das Kunstmuseum Bern zeigt die erste grosse institutionelle Einzelausstellung von Amy Sillman in Europa. Sillmans kraftvolle und anspielungsreiche künstlerische Sprache bezieht sich immer wieder auf die Geschichte der Malerei. In ihrer Präsentation in Bern integriert sie Werke aus der Sammlung des Kunstmuseums Bern. Die Künstlerin gilt als wichtige Stimme der zeitgenössischen Malerei.
Die US-amerikanische Malerin Amy Sillman (*1955) hinterfragt seit den 1990er Jahren immer wieder ihr Medium. Ihr Werk umfasst Zeichnungen, Drucke, Texte, Objekte und Animationen. Charakteristisch für Sillmans bildnerische Erkundungen ist die völlige Hingabe an Prozesse der Transformation, Umkehrung, Neuordnung und Überprüfung. Ihre schnellen, seriellen Zeichnungen und vielschichtigen Gemälde bewegen sich gekonnt zwischen Abstraktion und Figuration - mal sind sie vielfarbig, mal monochrom, mal zeigen sie komplexe Formen, mal Figuren oder Körperteile. Und immer sind sie voller Lust am Malen.
1975 zog Amy Sillman nach New York, um, inspiriert von ausgedehnten Reisen durch Japan und die USA, Japanologie zu studieren. Schon immer von Sprache fasziniert, belegte sie Kalligraphiekurse mit dem Wunsch, später Publizistin oder Übersetzerin zu werden. In diesem Zusammenhang entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Zusammenspiel von Wort und Bild, Abstraktion und Figuration. Angetrieben von dieser Begeisterung ging sie Ende der 1970er Jahre an die School of Visual Arts in New York, um Illustration zu studieren. Doch bald fand sie Gleichgesinnte in der Malerei. Die New Yorker Kunstszene jener Jahre prägte sie entscheidend.
Ihr illustrativer Hintergrund und ihre Affinität zu Sprache und Schrift sind ihr bis heute nicht nur erhalten geblieben, sondern integraler Bestandteil ihrer Kunst. Sillman orientiert sich in ihrer Arbeit an traditionellen Formaten wie Landschaft und Porträt, an Begriffen wie Abstraktion oder Cartoon, aber auch an der Faszination für die Formbildung während des Malprozesses, die sie experimentell erforscht. Die Begeisterung und Sorgfalt, mit der sie malt und über Malerei spricht und nachdenkt, spiegelt sich sowohl in ihren Texten und zahlreichen Lehraufträgen als auch in ihrem Kunstverständnis und der Präsentation ihrer Werke wider. Seit vielen Jahren schreibt Sillman über Kunst - sowohl über ihre eigenen als auch über historische Positionen. Ihre Referenzen sind so vielfältig wie ihr Werk und reichen von Anekdoten aus ihrem Alltag bis hin zu kunsthistorischen Essays, die sich oft mit Praxis und Form beschäftigen.
Die Künstlerin lotet die Rollen des Gegenständlichen, des Cartoonhaften und des Abstrakten aus, wobei sie sich immer wieder die Frage stellt, ob etwas Abstraktes Träger von Gefühlen sein kann und ob sich daraus sogar eine Sprache formen lässt. Dies zeigt sich beispielsweise in den knapp 200 Zeichnungen der Serie UGH for 2023 (Words / Torsos), die im Kunstmuseum Bern zu sehen sind. Körper und Worte werden auf Linien und kehlige Buchstabenfolgen reduziert und so zur experimentellen Collage wechselnder Gefühlszustände. Neben- und übereinander an der Wand präsentiert, wird der Prozesscharakter ebenso deutlich wie der Aufbau einer emotionalen Textur: Die Formen und Flächen gehen ineinander über, verdoppeln und verändern sich und erinnern in ihrer Abfolge an ein Storyboard oder ein Daumenkino. Sillmans Beschäftigung mit der Malerei endet jedoch nicht, wenn sie den Pinsel aus der Hand legt. Sie schafft digitale Animationen, die wie ihre malerischen Serien die Entwicklung abstrakter Formen dokumentieren, die Dynamik des Schaffensprozesses nachzeichnen und zugleich Emotionen wecken und oft komische Geschichten erzählen.
Zugleich reagiert Sillman auf das Weltgeschehen, etwa in der Serie der Election Drawings: Strichfiguren, schwarz vor leerem weißem Hintergrund, liegen gebeugt am Boden, mal kauernd, mal im Bett, mal sich erbrechend. Die Kohlestriche sind robust, aber auch brutal und vor allem wütend. Die Serie von 23 Graphitzeichnungen auf Papier entstand 2016 nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Inspiriert von Protestplakaten ging es Sillman um die Emotionen, die in einem solchen Moment sowohl zum Handeln aufrufen als auch handlungsunfähig machen.
Mit ausgewählten Werkgruppen aus den letzten fünfzehn Jahren präsentiert das Kunstmuseum Bern das kraftvolle und andeutungsreiche Werk von Amy Sillman. Die Ausstellung umfasst drei Zeichnungsserien, die zwischen 70 und 400 Zeichnungen umfassen, rund 30 Gemälde und fünf Animationsfilme. Sie ist als grosse Installation verschiedener Werkformen konzipiert, die sich mit dem Aspekt der Zeit auseinandersetzen. Gemeinsam mit der Künstlerin kuratiert, zeichnet sie sich durch gezielte Begegnungen zwischen dicht komponierten Gemälden und umfangreichen Zeichnungsserien, objekthaften Druckserien, Videoarbeiten mit poetischen Tonspuren, Wandmalereien, Animationen und installativen Interventionen aus. Darunter auch die monumentale Arbeit Untitled (Frieze for Venice), die Sillman für die Biennale in Venedig 2022 geschaffen hat.
Der besondere Fokus auf das Moment der Zeit in der Malerei ergibt sich aus der komplexen Arbeitsweise der Künstlerin: Sillman trägt immer wieder Farbe auf, zeichnet, malt, kratzt, wischt weg, übermalt, bis ein Werk den Punkt erreicht, an dem es etwas ausdrückt und sich Bedeutung herauskristallisiert. Ihre Kunst bewegt sich in Richtung Film und Poesie, in der Zeit komprimiert oder ausgedehnt werden kann. Darüber hinaus ist Zeit für Sillman auch im Raum greifbar, den sie dem Prozess der malerischen Bildfindung und der Entwicklung zeichnerischer Gesten zugesteht.
Hier wird ihre kritische Revision des Abstrakten Expressionismus als zeitgenössisches Ringen um das kommunikative Potential abstrakter Malerei verständlich. Sie befreit sie von den Herrschaftsansprüchen und Heroisierungen vergangener Generationen und erschließt mit ihrer fragilen und lächerlichen Vergeblichkeit neues emotionales Terrain. Sillmans Hinwendung zum Unbeholfenen und Unbeholfenen eröffnet der Malerei eine neue Glaubwürdigkeit und Aktualität in einer Zeit, in der das Subjektive in der Kunst hybrid, fließend und prozessual artikuliert werden will.
Besonders wichtig ist Sillman auch die Art der Präsentation ihrer Kunst. Die Ausstellung macht sichtbar, wie stark die Künstlerin im Raum und auf den Raum bezogen arbeitet: Sie verändert die Architektur durch ungewöhnliche Displays, sie verunklärt die räumliche Struktur durch Malerei und hinterfragt die Grenzen des Bildes. Durch die ungewöhnliche Präsentationsform ihrer Gemälde und Zeichnungen unterläuft die Künstlerin die Erwartungen an eine konventionelle Malereiausstellung und rückt den Entstehungsprozess in den Vordergrund.
Als besonderes Extra bezieht Amy Sillman Werke aus der Sammlung des Kunstmuseums Bern in ihre Ausstellung mit ein und stellt ihre eigenen Arbeiten in einen Dialog. So hinterfragt sie mit ihrem Blick etablierte Muster und Gewichtungen der Kunstgeschichte. Dabei lässt sie sich nicht von Kategorien wie Kanon oder Historie einengen, sondern nutzt gekonnt Erzähl- und Bildsprachen, um einen neuen Blick auf Zusammenhänge anzuregen: Sie gruppiert die Werke nicht chronologisch oder thematisch, sondern nach Formen, Farben, Kompositionen oder ganz persönlichen Empfindungen. So hängt sie neben bekannten Gemälden von Augusto Giacometti auch kleinformatige Zeichnungen von Louise Bourgeois, die sie ihren eigenen Werken gegenüberstellt und mit künstlerischem Blick in Szene setzt.
Amy Sillman. Oh, clock!
bis 2. Februar 2025