Ressentiment / Risentimento
Der Begriff Ressentiment (vom französischen ressentir – empfinden, verspüren) beschreibt ein zeitlich andauerndes Gefühl, das wiederkehrt, eine Art im Verborgenen nagender Groll. Der Duden definiert das Ressentiment als eine "auf Vorurteilen, einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid o. Ä. beruhende, gefühlsmäßige, oft unbewusste Abneigung.
Ressentiment ist ein Gefühlszustand, der wie wenige andere unsere Gegenwart charakterisiert. Es ist nicht nur eine persönliche Empfindung, sondern beschreibt immer mehr auch eine gesellschaftliche Befindlichkeit und eine politische Strategie mit großer Kraft und Dynamik.
In der ersten Ausstellung 2020 geht "Kunst Meran Merano Arte" diesem Gefühl, seinen Untiefen und Windungen nach – sowohl in der persönlichen Wahrnehmung einzelner Menschen als auch in politischer und gesellschaftlicher Sicht. Ausgehend von ihren unterschiedlichen Ansätzen und Perspektiven stellen sich dreizehn internationale KünstlerInnen der Auseinandersetzung mit dieser Thematik.
Die von Christiane Rekade kuratierte Gruppenausstellung geht aus der interdisziplinären Zusammenarbeit von "Kunst Meran Merano Arte", dem Streicherensemble Conductus und dem Verlag alphabeta hervor. Ausgehend von der Schlüsselbedeutung des Wortes "Ressentiment" für unsere Zeit möchten es die drei Institutionen nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch und künstlerisch ergründen. Der Verlag alphabeta startete 2019 eine neue Buchreihe mit dem Titel "Zeitworte – Parole del Tempo". Als erstes "Zeitwort" wurde "Ressentiment" gewählt, und jeweils fünf zeitgenössische AutorInnen wurden mit Erzählungen in italienischer und deutscher Sprache beauftragt. Die Texte wurden in die jeweils andere Sprache übersetzt, sodass der Verlag alphabeta 2020 nun zehn Texte in zwei Sprachen präsentieren kann.
Das Ensemble Conductus unter der Leitung von Marcello Fera widmet sein jährliches Musikfestival Sonora dem Thema Ressentiment und ruft aus diesem Anlass eine eigene Produktions- und Konzertreihe ins Leben.
Die Ausstellung bei Kunst Meran Merano Arte stellt Fragen nach möglichen Formen und Ausdrücken dieses Gefühls. Was sind künstlerische Haltungen dazu? Die Ausstellung möchte aber auch aus einer anderen Perspektive auf dieses "vergiftende" Gefühl schauen und Alternativen zur Endlosschleife des Ressentiments suchen.
Der Ausstellungsparcours beginnt mit jenen KünstlerInnen, die die Beziehung zwischen Kunst und sozialem Engagement hinterfragen und zur Reflexion über die Verwendung und die politische Instrumentalisierung des Begriffs Ressentiment anregen.
So etwa der Turnerpreisträger Wolfgang Tillmans (geb. 1968 Remscheid, lebt in Berlin), in dessen Werk das Konzept der Teilhabe eine maßgebliche Rolle spielt. Dem Ressentiment als Folge isolationistischer Strategien setzt Tillmans seine unmittelbar engagierte Haltung entgegen. Der Künstler hat zu den Volksabstimmungen über den Brexit in Großbritannien, aber auch zu den Europawahlen 2019 mehrere Poster-Kampagnen realisiert, die zum freien Download auf seiner Homepage (tillmans.co.uk) stehen.
Francesca Grilli (geb. 1978 Bologna, lebt in Brüssel) setzt sich mit der Thematik der zeitgenössischen Migration in mehreren Skulpturen und der Performance "The forgetting of air" auseinander, in der AkteurInnen unterschiedlicher geografischer Herkunft und unterschiedlicher Sprache mit dem Publikum den eigenen Atem, sprich die essenziellste Geste der Menschlichkeit teilen.
Riccardo Previdi (geb. 1974 Mailand, lebt in Meran) untersucht in seiner Arbeit "Tavoli" das Konzept der Herkunft anhand der Nationalflaggen von Staaten, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen oder standen, indem er die jeweiligen Flaggen überlappend auf Tischflächen drucken lässt. Durch die verfremdeten Farben und Symbolwerte wird die Wertigkeit der Flaggen somit auf eine rein formale Ergänzung der Tische reduziert, die wiederum einen Ort der Begegnung, des Dialoges und der Verhandlung symbolisieren.
Raul Walch (geb. 1980 Frankfurt, lebt in Berlin) bietet eine unkonventionelle künstlerische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität, deren Umsetzung häufig im öffentlichen Raum geschieht. Für Meran entwickelt er ein Mobile aus verschiedenen Materialien und Gegenständen, die er in der Passerstadt aufgespürt hat und die die Präsenz und Bewegung der verschiedensten Menschen in der Stadt bezeugen. Das Mobile ist ein fragiles, bewegliches Objekt, das zum Nachdenken über das hauchzarte und oft brüchige Gleichgewicht der sozialen Gerechtigkeit anregt.
KünstlerInnen wie Klara Lidén oder Monika Sosnowska konfrontieren die BetrachterInnen mit dem Raum, der sowohl öffentlich als auch privat, kollektiv oder persönlich sein kann. Einschränkung, Trennung oder Entzug von (Lebens-)Raum schafft oft einen idealen Nährboden für die Entstehung des Ressentiments.
Klara Lidén (geb. 1979 Stockholm, lebt in Berlin) konzentriert sich auf den urbanen Raum, den sie mittels einer Reihe destabilisierender, gelegentlich subversiver und offensichtlich sinnloser Aktionen dekonstruiert. Im 2018 entstandenen Video "Grounding" geht die Künstlerin durch die Straßen von Manhattan und fällt nach wenigen Metern zu Boden. Sie steht wieder auf und geht weiter, nur um wieder hinzufallen. Eine Szene aus einem klassischen Slapstick, und gleichzeitig zeugt das Video von dem ermüdenden Sich-immer-wieder-Aufraffen, um erneut zu scheitern.
Monika Sosnowska (geb 1977 Ryki, lebt in Warschau) entwirft ein auswegloses Labyrinth, das zwar viele verschiedene Wege zu bieten scheint, am Ende aber den BetrachterInnen den Weg versperrt. Sie geraten somit in die gleiche Bedrängnis, das gleiche klaustrophobische Gefühl des Platzmangels, woraus das Ressentiment oft entsteht.
Eine ganz persönliche Dimension zeigt sich in der Malerei von Barbara Tavella (geb. 1972 Wengen, Provinz Bozen, lebt in La Villa, Provinz Bozen), deren Bildern häufig Erfahrungen der Künstlerin zugrunde liegen. Immer wieder überarbeitet sie die Bilder, legt Farbschicht über Farbschicht, bis mit der fertigen Malerei auch die Erfahrung abgeschlossen ist. Tavellas Arbeitsweise nimmt buchstäblich die Bedeutung des Ressentiments als wiederkehrendes Gefühl auf.
Teodora Axente (geb. 1984 Hermannstadt, lebt in Klausenburg) bedient sich ebenfalls der Malerei, um das Thema zu reflektieren: "Ohne Titel" aus dem Jahr 2015 steht in einem unmittelbaren Bezug zur Buchpublikation beim Verlag alphabeta, die Ausgangspunkt für das interdisziplinäre Projekt Risentimento/Ressentiment war, und wurde als Coverbild für die ersten beiden Bände verwendet.
Christian Niccoli (geb. 1976 Bozen, lebt in Berlin) untersucht wiederum das eigene Erleben in einer Serie surrealer Zeichnungen, die oft Selbstporträts sind. Niccoli ist hauptsächlich durch seine Videos und Videoinstallationen bekannt. Die Zeichnungen verstand er zunächst als einfache "Arbeitsnotizen", bis er sie in den letzten Jahren als eigenständige Arbeiten neu interpretierte und nun in Meran erstmals ausstellt.
Das Poetische, oft Tragisch-Komische charakterisiert die Arbeiten von Gernot Wieland (geb. 1968 Horn, lebt in Berlin), der anlässlich der Eröffnung eine von Projektionen begleitete "Lecture performance" gibt. Ausgehend von biografischen und historischen, wahren und fiktiven Ereignissen setzt sich Wieland mit dem persönlichen und kollektiven Gedächtnis und den verdrängten Erinnerungen auseinander. Das Modell Deutscher Humor beschreibt einen Vorschlag für eine monumentale Skulptur aus Betonbuchstaben, ein sarkastischer Kommentar zum Verständnis von Witz in seiner Wahlheimat Deutschland.
Die Arbeit Texts von Massimo Grimaldi (geb. 1974 Tarant, lebt in Mailand) setzt sich mit dem architektonischen Raum auseinander. Ähnlich wie Wolfgang Tillmans verwendet Grimaldi das plakative Element, um poetisch konnotierte Botschaften im Raum zu platzieren. Ein Wandtext beschreibt das Verschwinden einer Liebe und das leise Auftauchen des bitteren Nebengeschmacks des Ressentiments. Je nach Lichteinfall erscheinen die Worte klar lesbar oder verlieren sich im Weiß der Wand – tauchen auf und verschwinden wie die beschriebenen Gefühle.
Eine persönliche Erfahrung liegt auch dem Werk "Transitional Space" von Liesl Raff (geb. 1979 Stuttgart, lebt in Wien) zugrunde: Die Idee dazu kam ihr in Mexiko-Stadt, im Haus und Atelier von Luis Barragán, einem der bedeutendsten mexikanischen Architekten des 20. Jahrhunderts. Diese Räume verstehen sich als Schwellen, als Brückenschläge zwischen innen und außen, als Orte der emotionalen Verwandlung. In Meran realisiert Raff eine Art Refugium mit einem Dach aus Palmblättern und Latex, einen sicheren Ort, der jedoch auch ein Ort der Veränderung, der Heilung und der Bewusstwerdung ist.
Mit der Idee einer positiven Umdeutung des Begriffs oder der Suche nach einer ganz anderen Perspektive auf das Gefühl des Ressentiments schließt die Kurz-Meditation der Atemtherapeutin, Stimm- und Gesangstrainerin, Hypnosetherapeutin Beatrice Volpi die Ausstellung und lädt die BesucherInnen ein, den "Raum des Ressentiments" zu betreten, zu erfahren und schließlich zu einem Gefühl des Neubeginns aufzubrechen. Während der Dauer der Ausstellung wird Beatrice Volpi einen zweistündigen Workshop anbieten, in dem die Auseinandersetzung mit "Ri-sentimento" (Ressentiment) und die mögliche Umdeutung zu "Per-Dono" (Vergebung) erfahren werden kann.
Ressentiment / Risentimento
19. Mai bis 30. August 2020
Kuratorin: Christiane Rekade
KünstlerInnen: Teodora Axente, Francesca Grilli, Massimo Grimaldi, Klara Lidén, Christian Niccoli, Riccardo Previdi, Liesl Raff, Monika Sosnowska, Barbara Tavella, Wolfgang Tillmans, Beatrice Volpi, Raul Walch, Gernot Wieland
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