Pre-Code Hollywood: Warner Bros. am Zenit

In einer berühmten Szene des Pionier-Gangsterfilms "The Public Enemy" (1931) drückt James Cagney am Frühstückstisch der nervenden Freundin einfach eine halbe Grapefruit ins Gesicht, um sie zum Schweigen zu bringen; im Musical-Klassiker "Gold Diggers of 1933" präsentiert Choreografie-Genie Busby Berkeley ein atemberaubendes Arrangement von notdürftig mit Geldmünzen "bekleideten" Tänzerinnen, die der Depressionszeit den beschwingten Refrain "We"re in the money" entgegenhalten; im überwältigenden Sozialdrama "Wild Boys of the Road" (1933) ziehen Hunderte von der Wirtschaftskrise zu Streunern gemachte Jugendliche kurzerhand gegen die Polizei ins Feld; im zynischen Sex-Skandalfilm Baby Face (1933) steigt die Kamera immer wieder die Stockwerke eines Büro-Hochhauses empor: eine unerhörte Metapher dafür, wie sich Barbara Stanwycks abgebrühte Aufsteigerin in ihrer Firma nach oben schläft; und "Two Seconds" (1932) offenbart in einer rasenden Rückblende die ganze Tragödie eines mörderisch entgleisten Lebens – in 70 Minuten Filmlaufzeit bzw. jenen gedehnten zwei Sekunden, die Edward G. Robinsons Hinrichtung am elektrischen Stuhl dauert.

Fünf beispielhafte Bilder für das wilde, freie, sexuell wie sozialpolitisch aufgeheizte und umwerfend dynamische US-Kino der frühen Tonfilmära, das einen absoluten Höhepunkt der Filmgeschichte markiert. Von 1931 bis 1934, während die andauernde Wirtschaftskrise die amerikanische Gesellschaft zu lähmen droht, entladen sich aktuelle soziale Ängste und urbane Umbrüche in energetischen entertainments von unerreichter Frechheit und Rasanz. Die Filmstudios, allen voran Warner Bros., setzen auf die Kunst mitreißender Verdichtung: Gemäß dem Motto "make it snappy" peitschen diese schnellen, grellen Filme in 60–80 Minuten epische Erzählungen durch, die heute Stunden (wenn nicht ganze TV-Miniserien) dauern würden.

Sein Namenskürzel – "Pre-Code Hollywood" – verdankt dieser filmhistorische Moment dem sogenannten Production Code, dem moralinsauren Selbstzensur-System der Major Studios, das ab Sommer 1934 durchgesetzt wurde und die Freizügigkeiten der Vorjahre abrupt beendete. Die besonders anstößigen Filme wurden auf Eis gelegt, aktiv "vergessen" oder noch rückwirkend zensuriert. Im letzten Vierteljahrhundert ist diese Epoche jedoch als wahre Wunderkammer des Kinos wieder entdeckt worden: Unter Eingeweihten steht das Schlüsselwort "Pre-Code" seither (fast so wie das populäre Signet Film noir) für eine spezielle Magie – eine erzählerische und schauspielerische Direktheit, die die anschließende, modellhaft reglementierte "Goldene Studio-Ära" Hollywoods vielfach in den Schatten stellt.

Durch eine Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale im Jahr 1996 wurde das Pre-Code-Kino erstmals in Europa großflächig dargestellt; im Kanon der Filmgeschichte bleibt es freilich (zumindest in unseren Breiten) relativ unterrepräsentiert. Mit einem mehrteiligen Projekt möchte das Filmmuseum daher den Reichtum dieser Blütezeit neuerlich sichtbar machen.

Das Statische der frühen Tonfilmversuche ist in den Pre-Code-Filmen überwunden: Sie sind geprägt von den heftigen Geräuschkulissen, Bewegungen und "Affekt-Montagen" des Großstadtlebens, sie übersetzen die Möglichkeiten der menschlichen Stimme und der populären Musik in vieldeutige Choreografien und Dialogduelle – und sprechen dabei die sozialen Krisen und Ungerechtigkeiten der Depressionsära direkt an: wie griffige Schlagzeilen, von denen noch die Druckerschwärze tropft. Zugleich wird der Lebensstil der Jazz- und Flapper-Ära in die 1930er hinüber gerettet, in Bildern freierer, "gut/böser" Menschen: Gangster und zynische Anwälte; schrille Journalisten, Agenten, Trickbetrüger, Entertainer; und "Gold-Digger"-Damen, die ihre Klugheit und Sexualität gezielt einsetzen, um soziale Schranken zu überwinden.

Genres wie Gangster- und Gefängnisfilm, Musical, Horror und Romantic Comedy erleben in dieser Ära ihre erste Blüte, aber auch Filme, die kaum einem Genre zuzuordnen sind: Erzählungen über die reale Lage der Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Werke platzieren soziale und politische Kommentare mitten in der Unterhaltungsindustrie – und wirken dabei manchmal fast verwirrt, in alle Richtungen ausschlagend, hin und her gerissen zwischen Anspruch und Lustprinzip, etwa als erschütternde Kriegsheimkehrer-Tragödie (Heroes for Sale) oder in Form eines Aufsehen erregenden Exposés über den brutalen Strafvollzug in den Südstaaten: "I Am a Fugitive from a Chain Gang".

Alle genannten und in der Schau gezeigten Filme wurden von Warner Bros. produziert, jenem Studio, das den "Kinogeist der Zeit" auf den Punkt brachte: herausragend ihr Tempo, ihre smarten, "authentischen", erotisch aufgeladenen Figuren und Akteure, ihr Beharren auf Aktualität und urbanem Realismus. Die US-Mentalitätsgeschichte am Übergang von der Hoover- zur Roosevelt-Ära ist nirgendwo besser zusammengefasst als hier. Anders als bei Paramount oder Fox waren bei Warner nicht die individualistisch-sensitiven "Filmkünstler"-Regisseure tonangebend, sondern selbstbewusste "tough guys", die auf höchstem Niveau 5, 6 Filme pro Jahr ins Kino jagten – stets soziale Fragen im Visier: William A. Wellman, Mervyn LeRoy, Roy Del Ruth, aber auch Emigranten wie Michael Curtiz und William Dieterle – und natürlich Busby Berkeley, dessen spektakuläre Kino-Choreografien dem Musical neue Welten erschlossen.

Ebenso bedeutend für den Warner-Stil waren die Schauspieler, die das Studio unter Vertrag hatte – allen voran James Cagney, der in zehn Filmen der Schau enorme Vitalität und Schlagfertigkeit demonstriert. Barbara Stanwyck, Bette Davis, William Powell, Edward G. Robinson sind weitere Superstars aus der Pre-Code-Warner-Schmiede, aber nicht weniger prägend waren (heute fast vergessene) Größen wie Joan Blondell, Lee Tracy – und Warren William, als einzigartiger Meister gutgelaunter Anzüglichkeit vielleicht der Inbegriff der Ära: der King of Pre-Code.


Sex and the City
Pre-Code Hollywood: Warner Bros. am Zenit
6. Mai bis 19. Juni 2016