Poul Gernes - Retrospektive in Hamburg

Die Deichtorhallen Hamburg geben in einer Retrospektive mit über 400 Exponaten vom 8. Oktober 2010 bis zum 16. Januar 2011 einen umfassenden Einblick in die Kunst des dänischen Malers, Bildhauers, Filmers und Performance Künstlers Poul Gernes (*1925, † 1996), der zu den einflussreichsten skandinavischen Künstlern zählt. In fünfzig Schaffensjahren bestritt er zahllose Ausstellungen, bespielte 1988 den dänischen Pavillon auf der Biennale in Venedig und gestaltete über 150 Gebäude in Dänemark. Er hinterlässt ein beeindruckendes OEuvre, das durch seine außergewöhnliche Vielschichtigkeit fasziniert und dessen Ästhetik heute so aktuell ist wie zu seiner Entstehungszeit in den 1960er und 70er Jahren.

Ausgelassen, anarchisch, ausschweifend, fröhlich, folkloristisch, funky, psychedelisch – mit diesen Adjektiven beschreibt der Kurator der Ausstellung, Dirk Luckow (Intendant der Deichtorhallen Hamburg) das Werk von Poul Gernes, nicht ohne im Gegenzug zugleich die konstruktive Nähe zu architektonischen Kunsttraditionen wie der des Bauhauses zu betonen. Die Anbindung der Kunst an das Leben mit Hilfe von Farbe und Gestaltung war stets das Anliegen von Poul Gernes. Kunst sollte ein integraler Bestandteil des Lebens sein. Heute fällt auf, dass die Werke vieler junger Künstler Parallelen zum OEuvre Poul Gernes’ aufweisen. Darüber hinaus begegnen uns allgegenwärtig im urbanen Raum und auf Gebrauchsdesign farbintensive Muster wie Streifen, Kreisformen und folkloristische Blumen, die verblüffend an Gernes’ Ästhetik erinnern.

Charakteristisch für das Werk von Poul Gernes, der 1961 zusammen mit dem Kunsthistoriker Troels Andersen in Kopenhagen die radikale "Experimental Art School", kurz "Eks-skolen" genannt, gründete und in der dortigen Kunstszene schnell unentbehrlich wurde, sind seine zwischen Minimalismus und Pop-Poesie angesiedelten Bildserien aus den 1960er und 1970er Jahren. In ihnen werden Kreisformen, Buchstaben, einfache Muster oder Zielscheibenformen variiert, die der Künstler meist als komplexe Rauminstallationen inszenierte. Neben der Herstellung von Bildern und Skulpturen konzentrierte Gernes sich ab 1977 auf die Ausmalung und Innenraumgestaltung von öffentlichen Gebäuden, darunter das 25-stöckige Krankenhaus in Herlev am Rande von Kopenhagen, das er bereits 1968 begann.

Gernes fragte stets danach, was Kunst sei, und unterlief gängige Vorstellungen von ihr, sei es in der Verwendung von Materialien, der Einbeziehung alltäglicher Handlungen in seine Werke oder darin, dass er industrielle Produktionsprozesse reflektierte und sich als Designer aktiv in sie einbrachte. Er provozierte durch Extreme. Gernes forderte von seiner Kunst, dass sie den Leuten gefallen müsse. "Ästhetische Egotrips" waren, wie er sich ausdrückte, nicht seine Sache. Sein soziales Engagement war ihm wichtiger als der schnelle Erfolg im Kunstbetrieb.

Jeder Atemzug von Gernes war Kunst. Darin bestand seine Identität. In seinem Werk trifft die Einfachheit der Abstraktion unvermutet auf modellhaft inszenierte Wirklichkeiten, konzeptuelle und analytische Ansätze treffen auf das Schräge, Multiple oder Verstiegene, das emotional Ausgleichende auf das Aufrührerische. Bildnerische Strategien und Formen werden aufgegriffen, um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Die erstaunliche Wandelbarkeit der künstlerischen Figur Poul Gernes führt zu Irritationen. Man kann seine Kunst nicht in eine Schublade stecken, häufig überlagern sich die Bedeutungen. Suggestionskraft, Fantasie und Humor stehen bei ihm über den Zwängen eines klar definierten Stils oder Markenzeichens. Für Gernes war die Gestaltung des gesellschaftlichen Raumes vorrangig. Das ist der rote Faden, an den wir uns klammern dürfen, den er selbst von Anfang an verfolgte.

Poul Gernes bewegte sich zwischen den Gattungen und Traditionen, betrachtete die Pop Art mit den Augen Vincent van Goghs oder mischte die Minimal Art mit Aspekten des Dekorativismus der Wiener Secessionisten. Hieraus mag sich das Unorthodoxe, aber auch die eigenwillige Schönheit seines Werkes erklären, das Raum und Fläche mit menschlichen Erzählungen und verschiedenen Stilen verbindet. Für die heutige Kunst sind ein breit gefächerter medialer Ansatz und stilistische Brüche selbstverständlich, ebenso wie das Nachdenken über Modelle einer Wirksamkeit von Kunst – daher das große Interesse junger Künstler wie etwa Cosima von Bonins, Liam Gillicks oder Tobias Rehbergers an Poul Gernes.

Die Retrospektive bietet auf 3.000 Quadrat Metern Gernes’ raumgreifenden und farbintensiven malerischen Abstraktionen erstmals einen ihren räumlichen Ausmaßen entsprechenden Rahmen. Der Künstler wies gelegentlich darauf hin, dass die meisten seiner größeren Arbeiten nur jeweils einmal ausgestellt wurden, nämlich an dem Ort, für den sie bestimmt waren. So erst wird die monumentale Dimension der zwischen Abstraktion und ornamentaler Form oszillierenden Werke als ein wesentliches Ziel seiner Kunst erkenn- und begreifbar.

Nach Hamburg wandert die Retrospektive in die beiden Kunsthallen in Malmö und Lund weiter. Mit der Ausstellung werden bedeutende Entwicklungsschritte im Leben von Gernes konsequent beleuchtet: von nahezu unbekannten, akribisch im altmeisterlichen Stil gezeichneten Studien aus den 1940er Jahren bis zu den großflächig stilisierten floralen und linearen Formen seiner späten Blumenbilder aus den 1990ern. Bisher kaum ausgeschöpfte Quellen, darunter zahlreiche Werke aus dem Nachlass von Gernes, der Kopenhagener Galerie Bo Bjerggaard sowie aus Museen und Privatbesitz, werden ein neues Verständnis von Gernes’ Kunst ermöglichen – insbesondere was die Verknüpfung von Kunst und Alltagsgestaltung betrifft.

Ein umfangreicher Katalog erscheint im Snoeck Verlag mit Essays von Dirk Luckow, Noemi Smolik, Belinda Grace Gardner, Troels Andersen, Lars Bang Larsen und Tania Ørum. Buchhandelspreis: 68 EUR; in der Ausstellung 48 EUR.

Poul Gernes - Retrospektive

8. Oktober 2010 bis 16. Januar 2011