"Pollymorphie", ein vergnügliches und langes Leiden
Polly? Wer oder was ist denn Polly? Polly ist beispielsweise ein aus dem weiblichen Vorname Molly entwickelter Kurzname, oder aber auch der stereotype Name für Papageien. Kommt daher womöglich der Begriff "Pollyphrasie" für eine krankhafte Geschwätzigkeit? Der Papagei in Monthy Pythons Sketch "Der Papagei ist tot" trug den Namen Polly Parrot. Außerdem lebte Tom Sawyer, wie wir alle wissen, bei seiner Tante Polly, und selbst Kurt Cobain, der Kopf (oder war es die entgegengesetzte Seite?) der Band "Nirvana", widmete Polly einen Song. Aber ich glaube nicht, daß er Toms Tante meinte.
Und dann gibt es noch Polly Pocket, eine weniger geschwätzige Lady, die als Kunststoffpüppi für kleine Prinzessinnen ihr Dasein fristet. Auf der Suche nach der einzig wahren Polly begegnete mir dann auch Polly Peachum, die Tochter von Jonathan Jeremiah Peachum aus der "Dreigroschenoper" des Komponisten Kurt Weill, dem Berthold Brecht zum passenden Text verhalf. Und da kommen wir der Sache doch schon ziemlich nahe. Aber eben nur ziemlich, denn die Polly, die ich suche, wurde bereits im Jahre 1777 geboren, und zwar in London. Nun, zeigen sich nach so viel Polly nicht auch bei Ihnen bereits erste Anzeichen einer "Pollymorphie"? Wusste ich es doch!
Meine Polly also wurde im Jahre 1777 in London geboren und hatte nicht wie üblich eine Mutter und einen Vater. Nein, Polly wurde von zwei Vätern geboren, genährt und großgezogen. Der eine war Johann Christoph Pepusch, und der zweite (er lehrte Polly die Worte) war John Gay. Sie versprachen ihrem Kind ein interessantes Leben und eine erfolgreiche Zukunft, überließen allerdings die junge Frau ihrem Schicksal, nachdem ihr Geliebter Macheath nach Westindien deportiert worden war, und Polly einsam und sich vor Sehnsucht verzehrend alleine in England zurückblieb. Nein, dachte sich da Samuel Arnold, das kann ich doch nicht zulassen, ich werde mich des Mädels annehmen!
Aber um Himmels Willen liebe Leser, Sie denken doch nicht der Samuel Arnold, der an der Entführung und dem Attentat an Abraham Lincoln beteiligt gewesen ist! Obwohl es da die tragische Gemeinsamkeit gibt, daß beide am Galgen endeten. Also, bevor ich allzu sehr abschweife, es handelt sich bei Pollys Retter um den am 10. August 1740 in London geborenen Komponisten. Ich glaube, als meine Mutter mich an einem 10. August gebar, dachte sie nicht an Samuel Arnold. Aber immerhin verdanke ich ihr eine winzig kleine Gemeinsamkeit mit ihm.
Und mit den meisten von Ihnen, werte Leser, verbindet mich ganz gewiß auch eine Gemeinsamkeit, nämlich, daß ich bis vor kurzem keine Ahnung hatte, wer Samuel Arnold eigentlich ist. Dabei war er sowohl königlicher Hofkomponist und Direktor der Academy of Ancient Music, als auchl Organist an der Westminsterabtei in London. Er komponierte mehr als 40 Opern und Intermezzi und 7 Oratorien. Aber blättere ich in meinem guten alten "Bielefelder-Klassik-Katalog", finde ich direkt hinter Arnold, Malcolm und vor Arolas, Eduardo den fleissigen Arnold, Samuel, der mit einer einzigen CD-Einspielung dort gelistet ist! Danke NAXOS! Danke, daß Sie sich Arnold und seinem Auftritt im "Bielefelder" widmen und uns seine Polly vorstellen. Denn um Polly ging es doch schließlich, bevor mir mal wieder die Reise von Pontius zu Pilatus in den Sinn kam, nicht wahr?
Also, es geht um Polly Peachum, Samuel Arnolds Baby, die eigentlich bereits eine junge Frau ist, als er sich entschließt, sie zu seiner Stieftochter zu erklären. Er nahm also die liebende junge Frau in seine Obhut und komponierte an einer Zukunft für und mit Polly. So kam es, daß die Geschichte der "Beggars Opera" (richtig, für und nicht über Bettler!) doch noch nicht zu Ende war. So kam Polly also noch zu ihrem Macheath nach Westindien. Auf dem Weg dorthin flirtete sogar Jenny Diver, die neue Liebschaft Macheaths, mit ihr, (Wieso? Das müssen Sie schon selber hören!), und dann traten noch allerhand Piraten, Hauptmänner, Indianerfürsten auf den Plan. Deutet sich da etwa ein typischer Fall von "Pollygamie" an? Oh ja, Polly bekam in der Tat ihr interessantes Leben! Aber bekam sie auch ihren Macheath? Oder kam doch alles ganz anders?
Hören Sie es sich an, liebe Leser, denn nicht nur die Geschichte, sondern ganz besonders die Musik, die Polly begleitet und trägt, ist einfach wunderbar. Wunderbar und very britisch! Aber ich sage es Ihnen lieber gleich, diese "Pollymorphie" ist eine üble, hartnäckige und äußerst ansteckende Krankheit! Und ich wünsche Ihnen keinesfalls gute Besserung, sondern ein vergnügliches und langes Leiden!
Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt
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