Polizeidenken

Der Westen hat mit seiner konsumorientierten Überwachungs- und Kontrollpolitik, der massiven Verhaltensweisen-Dauerbeeinflussung anscheinend gewonnen: ohne eigentliche, offene Zensur, ohne ausgewiesene Inquisitionsorgane funktioniert die Selbstzensur als auch das Denunziantenunwesen so gut nie zuvor; die Nazis und Bolschewiki hätten ihre eitle Freude daran gehabt.

Nicht nur anzeigen, "verpfeifen" oder "vernadern" ist wieder eine begrüßte Ehrenqualität, sondern auch direkte Rollenübernahme als Sheriff oder Quasi-Polizist in befremdlichen Anmaßungen ordnungs- und straffanatischer Bürger grassiert. Alles unter den Bannern der Gesundheitspolitik (Rauchverbote, Nahrungs- und Genussmittelverbote, Verbote gewisser Rauschmittel usw.), der Jugendwohlfahrt (Kinderpornografie), der Verkehrssicherheit, der Genderpolitik (Sprachregelungen, die fast so streng durchgesetzt werden, wie Ähnliches unter den Nazis oder Stalinisten), benachteiligter Minderheiten, Inklusionsanempfohlenen, Integrationsunwilligen, Schutz und Respekt der Religionen und ihrer Ausübungen (Burka, Kopftuch, Kritiktabuisierung), Kampf gegen Pornografie (Absetzung gewisser Ausstellungen oder Aufführungen, Reinigung von Schund und Abschaum wichtiger Museen und Zensur bzw. Vernichtung anstößiger Schriftwerke in Bibliotheken).

Im Schutz vermeintlicher Anonymität bzw. bewusst laxer Verfolgung seitens der Behörden toben sich Gutmenschen als Mobber, Verleumder und Scheißer aus, die mit und in ihren Shitstorms für Recht und Ordnung nach ihrer Façon zu sorgen trachten, Menschen verfolgen, Existenzen vernichten. Alles im Namen einer hehren Moral, bestimmter hoher Werte oder einer Idealgesellschaft, die diesen Abschaum, der da keucht und grunzt und sein Unwesen treibt, als tugendhaft ansieht.

Die social media, die eigentlich asoziale Medien genannt werden müssten, sind zu den wichtigsten Medien der Zivilgesellschaften geworden; sie können als Messmarken für den gesellschaftlichen Zustand hinsichtlich Recht und Ordnung oder Werteverständnis dienen. Ihr Einfluss auf die konventionellen Medien, aber auch auf Unternehmen und politische Einrichtungen ist enorm. Sie widerspiegeln eine neue Art von Plebiszit einer Pöbel- oder Mobkultur, die jenseits hergebrachter Demokratievorstellungen funktionieren.

Das kennzeichnet nicht nur die Unterschichten, die Un- und Halbgebildeten. Auch in akademischen Kreisen ersetzten Ideologie und Moral vernünftiges Denken und Argumentieren; man sehe sich z. B. nur die „Kontroversen“ um Heidegger an, man erinnere sich des Historikerstreits, man beurteile die Weißwaschungen vieler Historiker und Experten des amerikanischen Atombombeneinsatzes über Hiroshima und Nagasaki, man bewerte den Rassismus in den USA, wo die Nachfahren der ehemaligen schwarzen Sklaven immer noch gejagt und niedergehalten werden, was natürlich nicht so schlimm ist, als wenn sie einen Antisemitismus pflegten, den sie nun doch nicht üben (aus realpolitischen Gründen wurde z.B. der prominente Antisemit Henry Ford zurückgepfiffen, damals, als er Tausende von Pamphleten, Zeitungen und Buchpublikationen gegen das Weltjudentum druckte und verteilte). Offensichtlich ist Rassismus gegen Schwarze weniger gewichtig, auch im Gedenkjahr der Salem-Märsche in Alabama 1965. Das Profiling, die täglichen Übergriffe, die vielen Morde an unbewaffneten Schwarzen, werden pseudorationalisiert, um ja nicht eines Antiamerikanismus geziehen zu werden, der fast so schlimm wäre wie der Antisemitismus.

In diesen Purifikationszeiten, in diesem Klima der falschen politischen Korrektheit, erstirbt das freie Wort, verkümmert das selbständige Denken. Kein Wunder, dass auch in Europa keine wirkliche Kritik laut wird, keine Visionen existieren, keine Innovationen erfolgen, weil die Mehrheit kuscht und die Hände vor den Mund, die Augen und die Ohren drückt.